Raffaele Mellace: Johann Adolf Hasse [Peter Sühring]

Mellace, Raffaele: Johann Adolf Hasse /  Neubearb. Ausgabe. Aus dem Ital. Übers. von Juliane Riepe – Beeskow: ortus, 2016. – 457 S.: 48 Abb., Notenbsp. (ortus studien ; 16)
ISBN 978-3-937788-40-1 : € 35,00 (brosch.)

Will man heutzutage Hasses Grab (und das seiner Frau Faustina) in der venezianischen Kirche San Marcuola besichtigen, so muss man die Grabplatte erst einmal von Stühlen und Gerümpel befreien und sich vor den erbosten Blicken der Kirchenwärterin in Acht nehmen – ein schlechtes Omen für die weitere Beschäftigung mit ihm. Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, so müssten die Musikfeuilletons – soweit es sie noch gibt – die vorliegende deutschsprachige Neuerscheinung des Jahres 2016 eigentlich mit viel Aufmerksamkeit und Lob bedacht haben. Ganz ohne Veranlassung durch einen Tag des Gedenkens an die Geburt oder den Tod dieses großen Musikers ist im Jahr 2004 im jenem Land, in dem der ständig reisende, zwischen Deutschland und Italien pendelnde Johann Adolf Hasse (1699-1783) sein halbes Leben verbrachte, in Italien, eine umfassende monografische Darstellung seines Lebens und seiner Musik erschienen. Und es ist dem unermüdlichen Einsatz der deutschen Hasse-Forscher und -liebhaber zu verdanken, dass nun auch im Land seiner Geburt dem „divino Sassone“ (er war aber ein Norddeutscher) ein literarisches Denkmal gesetzt wurde. Denn wie der Autor Mellace in der Vorbemerkung zu überarbeiteten, d.h. aktualisierten deutschen Ausgabe schreibt, ist es Juliane Riepe als Übersetzerin gelungen dieses Werk von der italienischen in die deutsche Wissenschaftskultur zu übertragen. Dass dazu gehört hätte, in den Literaturverweisen zumindest für die klassisch gewordenen originalsprachlichen italienischen, französischen und englischen Titel aus dem 18. bis 20. Jahrhundert auch – soweit vorhanden deutsche Übersetzungen heranzuziehen, auf die natürlich Mellace sich nicht zu beziehen brauchte, sei nur am Rande als ein kleines Versäumnis erwähnt. Heutzutage Hasse auch nördlich der Alpen jene ihm gebührende Stellung zu verschaffen, die sich neben Bach und Händel höchstens noch ein Telemann langsam erwerben kann, scheint aussichtslos, dazu ist wohl die deutsche protestantische, antiromanische Musiktradition (noch) zu dominant.
Mellace ist ein enorm fleißiger, von seinem Gegenstand geradezu besessener langjähriger Hasse-Forscher und hat auch schon vor diesem Buch und auch nach dessen Veröffentlichung weiter an der Aufdeckung weiterer Zusammenhänge gearbeitet. Seine korrespondierenden Beziehungen zur deutschen Hasse-Forschung haben in dieser Monographie, die auf lange Sicht das Referenzwerk zu Hasse bleiben wird, ihre Spuren hinterlassen. Wenn man sich die Spielpläne deutscher Opernhäuser und die in modernen Ausgaben zugänglichen Operndrucke Hasses (sechs an der Zahl) anschaut und mit der Tatsache vergleicht, dass er über 70 Opern geschrieben und u.a. in Neapel, Venedig, Mailand, Dresden und Wien hat aufführen lassen, kann man das ganze Ausmaß dessen ermessen, was uns verloren gegangen ist und wieder gewonnen werden müsste, auch wenn man nur einen Bruchteil seiner Opernproduktion als wieder des Aufführens wert erachten sollte. Das Gleiche und mehr gilt für seine geistliche Vokal- und seine Instrumentalmusik.
Mellace hat eine enorme Menge an Primär- und Sekundärquellen konsultiert und ausgewertet und befriedigt den Leser mit seiner ausgiebigen Zitierfreude aus diesen Dokumenten. Das betrifft vor allem auch Briefe sowie private und öffentliche Zeugnisse von Zeitgenossen. Das aufwändige und abenteuerliche Leben des Kontaktgenies Hasse wird anschaulich (unterstützt von zahlreichen, gut ausgesuchten Abbildungen) und nachvollziehbar mit den gebotenen kulturgeschichtlichen Erläuterungen und Interpretationen erzählt. Es werden neben den großen legendären Verhältnissen wie seiner Ehe mit der Sängerin Faustina Bordoni und den Beziehungen zu den sächsischen und habsburgischen Höfen, auch kleinere Episoden wie die Beziehungen zum preußischen Hof oder die Begegnung mit den Mozarts in Venedig berücksichtigt. Vielleicht teilt ja Hasse auch wirklich nur das Schicksal, das ihm selbst nach einer Aufführung von Ascanio in Alba des 15jährigen Mozart in Mailand vorschwebte: „Dieser Knabe wird uns alle vergessen machen“. Umgekehrt aber ist Mozart ohne Hasse nicht zu begreifen.
Tiefe Einblicke gewährt Mellace auch in das innere Getriebe damaliger Opernhäuser, in die für Hasse glücklichen Erfolgsbedingungen und die Komplikationen, die mit den zum Teil prächtigen Aufführungen verbunden waren. Eine besondere Position nimmt hier Dresden in den 1730er bis -60er Jahren ein. Hier ist von (eher und erst später von Spontini in Berlin her bekannten) Kuriositäten zu berichten. Was dort das Auftreten von Elefanten auf der Bühne war, konnte schon über das von Pferden und eine Unmenge anderer menschlicher Komparsen während Hasse-Opern in Dresden gemeldet werden. Umstände übrigens, die auch in Form von „Opernerinnerungen aus alter Zeit“ noch im Jahr 1897 im Leipziger Tageblatt einer detaillierten Berichterstattung für Wert befunden worden sind.
Auf etwas mehr als 100 Seiten schildert Mellace Hasses Opernproduktionen für Italien und Deutschland in ihrem Verhältnis zu berühmten Librettisten seiner Zeit und den zum Teil pikanten Aufführungsbedingungen. Weitere Kapitel sind den theatralischen Kammerkantaten Hasses, seiner umfangreichen und weit verstreuten geistlichen Vokalmusik und seiner Instrumentalmusik gewidmet, sodass keine Gattung, in der Hasse Bedeutendes und Hochragendes leistete, übergangen wird. Die Art der Werkbeschreibungen ist wissenschaftlich fundiert, terminologisch abgesichert, aber in einem freundlichen Stil, auch für Nichtwissenschaftler verständlich, geschrieben, sodass es eine Freude ist, sich auch in die Details zu vertiefen.
Der Anhang enthält gewichtige Verzeichnisse: ein Werkverzeichnis, ein Verzeichnis alter und neuer Ausgaben von Werken Hasses, ein Literaturverzeichnis, ein Abbildungsverzeichnis, ein Register jener Werke, die in der Monografie besprochen werden mit Seitenverweisen und ein Personenregister. Das Buch ist für ein erstes intensiveres Kennenlernen der überragenden Gestalt Hasses geeignet wie auch als zusammenfasssende Sammlung von Quellen und Bezügen für Kenner dieses liebenswerten Gegenstands. Man kann dem Buch nur eine weite Verbreitung wünschen und hoffen, dass es dazu beitragen könnte, jenen (wie es im Klappentext heißt) bedeutenden „Komponisten des 18. Jahrhunderts, dessen Ausnahmerang sich erst in Grundzügen abzeichnet“, in seinem Heimatland wieder einzubürgern.
Inhaltsverzeichnis

Peter Sühring
Bornheim, 15.09.2017

 

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