Karl Bartos: Der Klang der Maschine [Manfred Miersch]

Bartos, Karl: Der Klang der Maschine. – Köln: Eichborn, 2017. – 602 S.: 56 überw. farb. Abb.
ISBN 978-3-8479-0617-9 : € 26,00 (Hc; auch als e-Book)

Die Autobiografie Der Klang der Maschine gibt Zeugnis von der großen Leidenschaft des Autors für die Musik in vielerlei Gestalt und von seinem Talent, andere daran teilhaben zu lassen und dafür gleichfalls zu begeistern. Bekanntlich hat Karl Bartos aber noch weitere Talente, diese stellte er u.a. unter Beweis, als es darum ging, an der Formung und dem Schaffen des Gesamtkunstwerks Kraftwerk prägend mitzuwirken. In diesem Ensemble, das im Hinblick auf seine Mitglieder von einem, scherzhaft ausgedrückt, starkem sozialen Gefälle gekennzeichnet war, klaffte zwar die Schere zwischen Reich und Arm, was sich auch an einigen verhaltenen Bemerkungen des Autors zur finanziellen Honorierung der eigenen Leistung bemerkbar macht (z.B. „keine normalen Gagen, sondern nur eine Art Aufwandsentschädigung“, S. 194), die Schere klaffte jedoch nicht so sehr zwischen unterschiedlichen Abstufungen eines jeweiligen musikalischen Vermögens. Wer die unter dem Namen Karl Bartos erschienenen zurückliegenden Tonträgerveröffentlichungen COMMUNICATION und OFF THE RECORD gehört hat und bei den regelrecht umjubelten Konzerten der eigenen Band von Karl Bartos dabei war, hat es längst gemerkt: Karl kann es auch, und vielfach besser, unverkrampfter und frischer als Ralf (mit) und (ohne) Florian. Man muss nicht erst in DIE ZEIT schauen oder in andere Magazine, um OFF THE RECORD von Karl Bartos tatsächlich für das „das beste Kraftwerk-Album seit über 25 Jahren“ zu halten, für eine Platte „die Kraftwerk nicht mehr hinkriegen“ (Jürgen Ziemer in DIE ZEIT, 14.03.2013).
Bartos hat zum Ruhm und Erfolg von Kraftwerk entscheidend beigetragen. Jedoch: Der Klang der Maschine ist sehr viel mehr als nur ein Buch über die Zeit, als Karl Bartos neben Wolfgang Flür zum klassischen Line-Up der Techno-Pop-Pioniere gehörte, es erzählt vom erstaunlichen Werdegang eines Menschen, dessen „Lebensform“ es immer war und ist, „Musiker zu sein“ (S. 141). Die Autobiografie liest sich dabei oft so spannend wie ein Krimi, zu dem die Geschichte der Elektronischen Musik eine Art mitschwingenden Soundtrack bildet.
Seine „Klangbiografie“ (S. 560) erstellte Bartos, indem er sich am Inhalt seiner Taschenkalender orientierte („vom Ende der Sechzigerjahre bis heute“, S. 582) und daraus für sich eine Art biografischer Partitur machte, mit einer „Timeline“, „die ähnlich einer Musiksoftware verschiedene Spuren abbildete“ (S. 582, ebd.). Das Resultat ist eine stichhaltige und überzeugende Darstellung, in der keine Zeile überflüssig oder entbehrlich erscheint.
Die sechzehn übergeordneten Kapitel des Buches rhythmisieren sozusagen die Struktur des Textes, man könnte hier vereinfachend selbst drei Themenbereiche bilden, die sich teilweise überlagern:
1) Musiklehre für jedermann (in Anlehnung an den auf S. 71 erwähnten Buchtitel)
2) The making of … Kraftwerk
3) Being Karl Bartos

Zu 1) Musiklehre für jedermann:
Wer der Versuchung erliegt, erst auf Seite 121/122 (Kling Klang Studio) mit dem Lesen zu beginnen, da wo Bartos´ Mitwirkung als Kraftwerker sich abzuzeichnen beginnt, versäumt eine Menge. Denn auf den ersten über hundert Seiten des Buches geht es keineswegs nur darum, wie der junge Karl Bartos Gitarre, Schlagzeug oder andere Musikinstrumente spielen lernt, nein, hier wird bereits der Sound-Kosmos umrissen, der sich dem Autor und damit den Lesern öffnet: Es geht um die Beatles (S. 37), Varèse und Cage (S. 95), Bach (S. 99), die Auswirkung des Tristan-Akkord(s) bei Wagner und um Debussy (S. 99), um Strawinskys Arbeitsweise und die Bedeutung des Metrums (S. 100 ff.), um Minimal Music und vieles mehr.
Die Betrachtungen und Informationen, die Bartos hier bereits anstellt und vermittelt, lesen sich wie eine locker in den Zusammenhang eingestreute „Musiklehre für jedermann“, was den nachfolgenden Text des Buches sozusagen aufschließt. Auch im weiteren Verlauf wird diese Vorgehensweise als Metaebene beibehalten, es gibt Erläuterungen zur Zwölftonmusik (S. 131), zur musikalischen Improvisation (S. 201), zur Kunstform des Futurismus (S. 213), zum Begriff des Sound Designers (S. 253), und zur Funktion und Auswirkung von Streaming-Diensten, Download-Plattformen und Sharing Portalen (S. 553 ff.) etc. …
Die klassische Ausbildung des Autors wird hier ebenso erkennbar, wie seine Fähigkeit, erworbenes Wissen weiterzugeben. Kein Wunder, denn Bartos wirkte auch erfolgreich als Hochschulprofessor. Wem das alles zu akademisch oder gar lexikalisch erscheinen mag, der mag an den Schilderungen der Herausbildung einer lokalen Musikszene im Deutschland der 1960er-Jahre Gefallen finden oder/und an der von Bartos wahrgenommenen persönlichen Einbettung in eine „kulturelle Polyphonie“ (S. 120) und an den überraschenden Begegnungen mit heute berühmten einzelnen Musikerpersönlichkeiten.

Zu 2) The making of … Kraftwerk:
Es sind schon etliche Bücher zum Thema Kraftwerk erschienen, derart fundierte und tiefe Einblicke aus eigener Erfahrung, wie sie Bartos bietet, gab es bislang jedoch nicht. Sicherlich kann es gewinnbringend sein, als Außenstehender auf ein Phänomen zu blicken (wie es z.B. Pascal Bussy in 2005 mit Kraftwerk – Mensch, Maschine und Musik tat), dennoch ist klar, dass nur ein direkt Beteiligter Zugang zum ganzen Geschehen haben kann, und diesen Zugang zum Inneren des Kraftwerk-Labors bietet Bartos seinen Leser/inne/n. Natürlich spielen auch die verwendeten Maschinen eine Rolle, z.B. das „Vako Polyphonic Orchestron“ (S. 158), der Phonem Generator „Votrax VS-4/VS-6“ (S. 176 und S. 407 ff.), der von Hajo Wiechers gebaute „Sexa-„ äh, nein, „Synthanorma“ Step-Sequenzer (S. 207 ff. u. S. 345), der bereits die Karriere von Klaus Schulze und Tangerine Dream aufrichten half (und der den Kraftwerker Wolfgang Flür nach eigenem Bekunden „arbeitslos“ machte), der zugehörige „Intervallomat“ (S. 245), das „Stylophone“ (S. 336) oder das „Synclavier“ (S. 449 und S. 455).
Hier kann man all das lesen, was der Musikexpress-Chefredakteur Albert Koch wohl nicht zu fragen wagte, als er nach einer Wartezeit von 20 Jahren endlich die Genehmigung erhielt, einen gleichfalls gut informierten aber, wie manche Stimmen behaupten, strategisch- und notorisch informationsverweigernden Rennradfahrer zu interviewen …
Bartos gibt stattdessen detaillierteste Informationen zur gemeinsamen Arbeitsweise preis und zur Konzeption der Audio-Veröffentlichungen von Kraftwerk, an denen er beteiligt war, sowie zur Formung des werbewirksamen Images der Band. In den Text montiert sind zahlreiche persönliche Statements damals beteiligter oder befreundeter Personen, z.B.: Klaus Röder (S. 119 u. S. 188), Peter Bollig (S. 167), Claudia Schneider-Esleben (S. 185), Hajo Wiechers (S. 208 ff.), Michael Rother (S. 188 ff.), Wolfgang Flür (S. 311 u. S. 349).
Wenn Bartos über die „Exklusivität“ bei Kraftwerk spricht (z.B. S. 202 u. S. 318) oder über den „inoffiziellen Verhaltenskodex der Kraftwerk GbR“ (S. 462), geschieht das eher humorvoll und ohne jegliche Diffamierung.

Zu 3) Being Karl Bartos:
Ab Seite 327 bahnt sich eine „Anfangsphase“ der eigenen Laufbahn von Karl Bartos an. Nach Bartos´Ausstieg am 23. Juli 1990 (S. 482) beginnt sein „neues Leben“ (Kapitelüberschrift, S. 483). Wie ist das wohl, wenn man schon in ziemlich jungen Jahren Teil einer zunehmend bekannter und einflussreicher werdenden Band ist, die das eigene Leben bestimmt, und wenn man dann aussteigt? Spannend zu lesen! Bartos beschreibt auch hier völlig unprätentiös, welche Wege er beschritt und wieder verließ und welche sich neu auftaten. Einer der Wege führte von der Musik in die Lichtmusik, zur „Melodie der Bilder“, zur „Augenmusik“ (Textzitate aus dem Stück Rhythmus von der aktuellen Audio-Veröffentlichung OFF THE RECORD, s.o.).

Wenn Sie wissen möchten, was Bartos´ Klang der Maschine von der 1999 im Hannibal Verlag erschienenen Autobiografie Ich war ein Roboter von Wolfgang Flür unterscheidet:
Flürs sympathischer Bericht, mit nur ca. 300 Seiten Umfang, ist in seiner Offenherzigkeit schonungsloser (auch was die eigene Person betrifft), ziemlich „frei heraus“ und damit angreifbarer. Karl Bartos´ Darstellung ist weit umfassender, detaillierter, analytischer und mehr um Objektivität bemüht. Dennoch wird die eigene Betroffenheit im Klang der Maschine wirkungsvoll spürbar, z.B. dort, wo Bartos von der Vergangenheitsform plötzlich ins Präsens wechselt (S. 468). Parallel in beiden Büchern zu lesen macht viel Spaß.
Fazit:
Karl Bartos´ Autobiografie Der Klang der Maschine ist eines der lesenswertesten Bücher zur Gestaltwerdung von Ideen zu Musik und Sound und zur Konzeption einer genreüberschreitenden „Roboterband“ im Kontext jüngerer Popmusikgeschichte überhaupt.
Absolut „korrekt“!
Leseprobe

Manfred Miersch
Berlin, 30.08.2017

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