Wagner und Mendelssohn – Würzburg: Könighausen & Neumann, 2016. – 225 S.: Notenbsp. (wagnerspectrum ; 2/2016)
ISBN 978-3-8260-6078-6 : € 18,00 (kt.)
Die ersten 133 Seiten des zweiten Heftes des 12. Jahrgangs des halbjährlichen Wagner-Periodikums sind dem Schwerpunkt Wagner und Mendelssohn gewidmet und nur um jene diesem Thema gewidmeten Artikel soll es hier gehen, obwohl auch im weiteren Verlauf des Bandes noch interessante Aufsätze und Besprechungen folgen, z.B. über Chamberlain als gegen Nietzsche gerichteten „Bischof der Wagner-Gemeinde“ (Sven Brömsel) oder über Baudelaire als ersten Wagnerianer von Paris? (Egon Voss).
Es scheint sich unter den Musikhistorikern, die eine stetige Beschäftigung mit Wagner für unerlässlich halten, inzwischen herumgesprochen zu haben, dass eine halsstarrige Verteidigung von Wagners problematischer Stellung in der Musikgeschichte nicht mehr angemessen ist, und so findet hier zwar eine relativ freimütige, auch die Irrtümer und blamablen Interessen Wagners nicht schonende Behandlung der heiklen Thematik statt, aber ein ernsthafter Vergleich oder eine angemessene Berücksichtigung der Mendelssohnschen Musikpraxis im Gegensatz zu der Wagners sähe noch etwas anders aus. Dazu scheint vor allem eine viel detailliertere Kenntnis des Gesamtwerks Mendelssohns erforderlich als die meisten Autoren als Wagner-Forscher zu besitzen scheinen.
Es gibt ja eh schon ein historisch real vorhandenes Missverhältnis zwischen den beiden Kontrahenten, nämlich die Tatsache, dass Mendelssohn sich einer kritischen Auseinandersetzung mit dem nur vier Jahre jüngeren, aber sehr viel später die Bühne betretenden Kollegen Wagner entzog, während Wagner viel wortreiches Aufhebens von seiner strategisch eingesetzten und der Selbstbehauptung und -inszenierung dienenden Gegnerschaft zu Mendelssohn machte. Zusätzlich dazu wird in den hier versammelten Aufsätzen öfters vorwiegend von Wagner her argumentiert und verständnisvoll sein Verhalten begründet und weniger der wohl angebrachte Versuch gemacht, die perfiden Vorwürfe Wagners anhand historischer Tatsachen und musikästhetisch anhand einer etwas genaueren Kenntnis der Werke Mendelssohns zu entkräften. Die polemische und von Wagner wider besseres Wissen gemachte Unterstellung, mit seiner spezifischen Musikalität hätte Mendelssohn es nicht vermocht, über handwerklich glatte, epigonale, gehaltlose Werke hinauszukommen, wird nur an wenigen Stellen durch analytische Hinweise auf das Gegenteil: auf Mendelssohns experimentelle, auch poetische und religiöse Sujets integrierende Kompositionsweisen entkräftet. Und zwar nicht einmal anhand jener Werke Mendelssohns, die Wagner nachweislich kannte und sogar selbst bis in die 1850er Jahre hinein einstudierte und aufführte (die Egon Voss recherchierfreudig und kenntnisreich auflistet, aber leider, das Gesamtwerk Mendelssohns betreffend, für „repräsentativ“ hält), geschweige denn anhand von Werken, die Wagner ignorierte oder ihm verborgen blieben.
Dass für Wagner ein Großteil der nicht in seinem Sinne musikdramatisch orientierten Kompositionen Mendelssohn (vor allem dessen gewichtige Kammermusik) als anachronistisch und als von einer für einzig möglich proklamierten Zukunft der Musik abgewandt und daher als irrelevant erscheinen musste, kommt hier gar nicht in den Blick oder wird zu einem bloßen Konkurrenzverhältnis der beiden Musiker auf verschiedenen musikalischen Gattungsgebieten verharmlost. Offensichtlich wird der usurpatorische und totalitäre Anspruch Wagners auf sein Musikdrama als der alles andere verzehrenden oder im dreifachen Wortsinn „aufhebenden“ Kraft gar nicht mehr als Movens des größenwahnsinnigen Auftritts Wagners in der Musikgeschichte in Rechnung gestellt. Aber Wagner war ja seinem eigenen Selbstverständnis nach nun wirklich etwas mehr als nur ein besonders ehrgeiziger Opernreformer, er hatte sehr dezidierte Vorstellungen vom einzig möglichen „Kunstwerk der Zukunft“, das wiederum völlig außerhalb des Gesichtskreises der spezifischen Musikalität von Mendelssohn lag, wenn dieser auch gerne noch eine große, publikumswirksame echte Oper in einem nicht-wagnerischen, also nicht-mythischen und nicht-symbolischen Sinne geschrieben hätte.
Dennoch enthalten alle Beiträge dieses Bandes interessante und lehrreiche Einblicke in das schräge Verhältnis Wagners zu Mendelssohn, die grell und beschämend die Tatsache beleuchten, wie viele, zwischen Irrtum und Lüge changierende Urteile Wagners über Mendelssohn bis heute das Mendelssohn-Bild der meisten Deutschen (und ihrer Musikhistoriker) bestimmen, die bedauerlicherweise auch in diesem Band kaum mehr als wiedergekäut werden, ohne ihre völlige Haltlosigkeit oder ihre Entstehung aus paranoischen Halluzinationen oder Karriere-Instinkten Wagners gebührend zu erläutern. Von diesen Fehlurteilen ist das vom Bach-Epigonen Mendelssohn noch das harmloseste, könnte aber durch Hinweise auf Mendelssohns Auseinandersetzung mit Mozart und Beethoven und seine äußerst originellen Formgestaltungen in seiner Kammermusik schnell entkräftet werden wenn man diese denn selber kennen würde.
Eine positive Ausnahme stellt der Beitrag von Stefan Keym dar, der anhand der Konzertouvertüren Mendelssohns (warum nicht anhand von dessen Opernouvertüren?) die der poetischen oder theatralischen Vorlage folgenden Formgestaltungen beschreibt und mit Wagners sinfonischer Technik vergleicht, um beider Vorreiterrolle für das Entstehen der sinfonischen Dichtung à la Liszt zu beglaubigen. Hier wird statt über Vorurteile und Ressentiments einmal wirklich über Musik gesprochen.
Im Versuch einer „bibliographischen Annäherung“ an die beiden Kontrahenten, in der Ralf Wehner zu Recht auf die Originalquellen Wert legt, werden die Primärquellen auf jene Briefe eingeschränkt, die beide direkt aneinander richteten, während an Dritte gerichtete Briefe, in denen beide jeweils über den anderen redeten, nicht in Betracht gezogen werden. Bei der Auflistung der Sekundärliteratur vermisst man schmerzlich Hinweise auf die frühen Dokumente anderer Zeitgenossen, also z.B. die Erinnerungen an Mendelssohn und seine Ansichten (auch über Wagner) in den Berichten von Eugen Devrient, Ferdinand Hiller, Sebastian Hensel, Johann Christian Lobe und Wilhelm Adolf Lampadius.
Egon Voss kann in seiner Chronologie des Verhältnisses von Mendelssohn und Wagner immerhin vorstellen, wie ambivalent es von Seiten Wagners war, man könnte es auch zwiespältig oder verlogen nennen, wobei eine Portion Selbstbetrug eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte. Spätestens angesichts der erweiterten 2. Auflage des Pamphlets über das Judentum in der Musik und der Schrift über das Dirigieren ist aber der krankhafte Charakter der öffentlichen Angriffe Wagners gegen Mendelssohn unübersehbar, was dann Hans-Joachim Hinrichsen anhand der Dirigier-Schrift mehr unfreiwillig als direkt aufzeigt, wenn er verdeutlicht, wie Wagner innerlich gezwungen ist, seine eigene Produktivität als Interpret, Dirigent und Komponist von der Zerstörung derjenigen Mendelssohns abhängig zu machen. Ein Erfinder der wegen dieser wirkungsvollen Schrift historisch ihm zugeschriebenen Theorie und Praxis der Tempomodifikation war Wagner nun aber wirklich nicht.
Mendelssohn als Haupt eines klassizistisch verstockten Leipziger Musikerklüngels, der das Hochkommen der Neuerungen Wagners sabotiert, dieser von Wagner ins Leben gerufenen Legende rückt Marion Recknagel etwas zu Leibe, indem sie das Feld, in dem Mendelssohn operierte, etwas genauer sondiert. Mendelssohn war ja bekanntlich jeglicher Musikschriftstellerei abhold und konnte sicher auch den abwertenden Berichten über Wagners Musik nichts abgewinnen, vielmehr kümmerte er sich um das Aufführen von Musik aus allen Richtungen, auch dann, wenn er sie nicht gutheißen konnte (siehe seine Einladung an Berlioz, eigene Werke in Leipzig aufzuführen). Dass er 1846 selber die Tannhäuser-Ouvertüre Wagners dirigiert (vielmehr verdorben) hätte, diese später von Wagner in die Welt gesetzte Legende kann Recknagel immerhin zerstreuen.
Ganz auf das Niveau von Kaffeehausgeplauder begeben sich der Dirigent Christian Thielemann und der Musikwissenschaftler Arne Stollberg. Da, wo Wagner sich in den Bereich der komischen Spieloper vorwagte, wie in Die Meistersinger von Nürnberg, wird seine Musik dann als „mendelssohnös“ empfunden. Wenn Thielemann mal Wagners Musik zu schwer und brütend findet, dann muss „Felix“ ran, der Elfenmusiker. Dieses Klischee und positive Vorurteil hat als vergiftetes Kompliment schon zu Lebzeiten von Mendelssohn und bis heute den Leuten die Ohren verstopft für andersartige Mendelssohn-Musik.
Peter Sühring
Bornheim, 15.08.2017