Komponieren für Stimme. Von Monteverdi bis Rihm. Ein Handbuch / Hrsg. von Stephan Mösch. – Kassel [u. a.]: Bärenreiter, 2017. – 389 S.: s/w-Abb., Notenbeisp.
ISBN 978-3-7618-2379-8 : € 39,95 (geb.)
Erwachsen aus einer zweisemestrigen Ringvorlesung, die die Hochschule für Musik Karlsruhe 2014/15 in Kooperation mit dem Badischen Staatstheater und dem Richard-Wagner-Verband Karlsruhe abgehalten hat, kreist der vorliegende Sammelband um die Frage, wie das Komponieren für Stimme (das der Herausgeber in seinem instruktiven Vorwort treffend als „Kollektivsingular“ [S. 8] bezeichnet) die Möglichkeiten und Grenzen des Musiktheaters erweitert. Stile, Gattungen und individuelle Schreibweisen, Schriftlichkeit und Performanz sollen in die Überlegungen mit einfließen und „kompositorische Perspektiven des Vokalen durch einen historischen Überblick“ (S. eingefangen werden. Bei diesem „Überblick“ geht es dem Handbuch insgesamt nicht um die Hervorhebung von Gemeinsamkeiten und Mainstream-Entwicklungen, sondern um eine musikanalytisch prägnant herausgearbeitete Darstellung der Mannigfaltigkeit und vor allem der Individualität kompositorischer und stimmlicher Lösungen.
Nachvollziehbarer Weise ist Vollständigkeit weder angestrebt noch machbar. Zwischen der generellen Frage, was der Gesang in der Oper zu suchen hat (Silke Leopold) und Lehárs Lustgesängen (Michael Heinemann), der Opernstimme zwischen Romantik und Naturalismus (Uwe Schweikert) und dem Blick in die Werkstatt von Pauline Viardot-García (Sabine Henze-Döhring), d. h. zwischen eher auf die Komposition sowie eher auf das Singen ausgerichteten Blickweisen, entfaltet sich ein sehr weitmaschiges Netz, dessen Knotenpunkte Mozart, Wagner, Verdi und Rossini bilden – aber auch Korngold, Schönberg und Lully. Auf hohem analytischem und argumentatorischem Niveau vermitteln die 17 Einzelbeiträge beispielhaft, wie man vorzugehen hätte, wenn man zwischen diesen Knotenpunkten selbst weiterforschen wollte, und bieten dabei höchst anregende Perspektiven.
So sehr es erfreut, dass die Beiträge lieber das Einzelbeispiel vertiefen als oberflächliche Gemeinsamkeiten zu suchen, so sehr lenkt das exemplarische Arbeiten den Blick doch unweigerlich auch auf die Leerstellen. Die fühlbarste Lücke klafft bereits zwischen dem Titel und dem Buch selbst, denn dem Titel fehlt eindeutig der Zusatz „Komponieren für Stimme – im Musiktheater“: Außer Wolfgang Rathert (zu Henze) und Rebecca Grotjahn (zum Liedgesang im 19. Jh.) beschäftigen sich alle Beiträge mit der solistischen (bzw. bei Nanny Drechsler der chorischen) Opernstimme. Diese thematische Beschränkung stellt freilich keinen Mangel, sondern eher eine Tugend dar, da das Thema sonst wahrlich ausgeufert wäre. Doch hätte sie m. E. im Titel ersichtlich werden müssen … auch wenn dann konsequenter- und bedauerlicherweise die hervorragenden Beiträge von Rathert und Grotjahn hätten entfallen müssen.
Der Buchtitel verschweigt zudem eine zweite Besonderheit, nämlich den Umstand, dass die Stimme im Musiktheater von Monteverdi bis 1945 in Aufsatzform behandelt wird, dass aber das Musiktheater nach 1945 bevorzugt in Form von Interviews zur Geltung kommt. Die Perspektive verlagert sich also vom Produkt (dem Werk oder der Stimmbehandlung) zur Produktionsseite (den Selbstaussagen von Komponistinnen und Komponisten). Das wäre im Grunde Stoff für ein zweites Buch – und liest sich hochspannend, insbesondere in Kenntnis der Arbeitskontexte zum Zeitpunkt des Gesprächs. Denn fast alle Komponistinnen und Komponisten befanden sich gerade im Produktionsprozess eines neuen Werks.
Sieht man von der Unterschlagung des Schwerpunkts Musiktheater im Titel ab und wertet man den konzeptuellen Bruch zwischen Musik vor und nach 1945 positiv, dann wird schnell deutlich, dass der vorliegende Sammelband, der sich als Handbuch tarnt, ohne wirklich eines zu sein, ein echter Gewinn ist. Die Beiträge im ersten Teil sind thematisch so gewählt, dass ungewohnte Perspektiven auf nur scheinbar Vertrautes mit längst überfälligen Untersuchungen alternieren. Die Vielfalt der musiktheatralen Themen ist sehr breit; selbst Ungewohntes kommt zur Geltung (s. Inhaltsverzeichnis). Die Autorinnen und Autoren – allesamt ausgewiesene Kenner auf ihren Gebieten – untersuchen punktgenau und verbinden das Interesse am Detail mit genereller Übertragbarkeit der Ergebnisse. Zudem hat der Verlag ausreichend Raum für Notenbeispiele gewährt (paradoxerweise ist das ja in musikwissenschaftlichen Publikationen nur allzu oft ein Desiderat). Und die Interviews des zweiten Teils lesen sich fesselnd und bieten ein kleines Who-is-who des aktuellen Komponierens für die Bühne, wobei trotz des überschaubaren Rahmens von 12 Beiträgen sehr unterschiedliche Generationen, Kulturbereiche und Stile vertreten sind. Immerhin ein Viertel der Interviewten ist weiblich (Chaya Czernowin, Adriana Hölszky, Kaija Saariaho). Am erfreulichsten ist vielleicht, dass die Interviews sich tatsächlich auf das Thema Stimme und Musiktheater konzentrieren und hier klare Statements vorlegen. Wozu allerdings die zeitungsartig eingeblendete Wiederholungen von Kernsätzen dienen …? Auch ohne sie liest man sich fest – ebenso wie in den wissenschaftlichen Untersuchungen des ersten Teils.
Also summa summarum: kein Handbuch, aber ein Buch, das man gern und mit Gewinn zur Hand nimmt!
Inhaltsverzeichnis
Kadja Grönke
Oldenburg, 20. August 2017