Norman, Philip: Paul McCartney / Aus dem Engl. übersetzt von Conny Lösch. – München: Piper, 2017. – 973 + 32 ungez. S.: 57 SW- u. Farb-Fotos
ISBN 978-3-492-05825-4 : € 32,00 (Hc; auch als e-book)
Die 1980er Jahre gehören nicht zu dem Jahrzehnt, das im Leben von Paul McCartney als besonders erfolgreich angesehen wird. Zwar begann er die Dekade künstlerisch ambitioniert mit seinem zweiten Solo-Album McCartney II, doch hat nicht zuletzt die Ermordung von John Lennon seine musikalische Entwicklung so gehemmt, dass der Künstler selbst mit den Projekten der folgenden Jahre nicht zufrieden sein konnte. Auch wenn die Zeit der intensiven Zusammenarbeit von Lennon und McCartney schon lange vorbei war, so schien der Tod des Freundes den kreativen Austausch endgültig beendet zu haben. Als McCartney am Ende des Jahrzehnts eine Tour-Band zusammenstellte, war dies nicht nur sein Comeback als Live-Künstler. Mit einer kaum vorstellbaren Kreativität trieb er seine Karriere als Solo-Sänger voran, schrieb klassische Werke, experimentierte mit elektronischer Musik und intensivierte sein Interesse für Malerei und Literatur. Diesen Bemühungen lag auch ein angeschlagenes Selbstbewusstsein zugrunde, das man hinter der Fassade des dauerlächelnden Charmeurs nicht vermutet hätte. John Lennons Instinkt für medienwirksames Selbstmarketing, sein tragischer Tod und eine sorgsam gepflegte Erinnerungskultur haben McCartneys Selbstverständnis als Künstler so sehr in den Schatten gestellt, dass sich dieser zu einer Imagekorrektur veranlasst sah.
1997 veröffentliche Barry Miles seine autorisierte Biografie über McCartney, in der erstmals im großen Umfang ein Kurswechsel der öffentlichen Wahrnehmung angestrebt wurde. Das Buch konnte das Bild des Künstlers tatsächlich positiv beeinflussen, deckte jedoch nur Kindheit und das Beatles-Jahrzehnt erschöpfend ab. Seither gab es beispielsweise mit den Biografien von Howard Sounes oder Peter Ames Carlin (s. info-netz-musik) mehrere Versuche, die jedoch nicht überzeugten. So war es nun dem englischen Autor Philip Norman vorbehalten, eine Lebensgeschichte vorzulegen, die der Person Paul McCartneys über die vielen Jahrzehnte seiner Karriere hinweg bis heute gerecht wird. Der 1943 in London geborene Norman ist Beatles-Fans durchaus ein Begriff. 1981 schrieb er mit Shout eine viel beachtete Band-Biografie, in der Paul McCartney jedoch sehr negativ gezeichnet wurde; 2008 legte Norman mit einem umfangreichen Band über John Lennon nach. Mit seiner fast 1.000 Seiten starken Biografie über Paul McCartney rückt Norman nun zum einen die Darstellung in Shout zurecht und stellt zum anderen ein Werk vor, das in der Sekundärliteratur zum Standard werden könnte.
Marktschreierische Enthüllungen sind von Norman glücklicherweise nicht zu erwarten. Das hat bereits seine Lennon-Biografie gezeigt, in der die Sensationslust des Publikums nur sehr dezent bedient wurde. Dafür gelingt ihm auch in seinem neuen Buch das Kunststück, die vielschichtige Persönlichkeit des Porträtierten stimmig nachzuzeichnen. Wenn der Autor das persönliche und gesellschaftliche Umfeld des jungen McCartneys beschreibt, die Interessen, Ängste und Vorlieben von Heranwachsenden in einer nordenglischen Hafenstadt schildert, dann wird deutlich, wo nicht nur die Inspiration, sondern auch der Ehrgeiz für das spätere Schaffen des Musikers herrühren. McCartneys Songs sind immer auch autobiografisch, egal, ob er in Penny Lane Kindheitserinnerungen bewahrt oder sich in späteren Alben mit privaten Katastrophen wie dem Tod seiner Ehefrau Linda auseinandersetzt. Norman hat für seine Biografie zahlreiche Weggefährten, Freunde und Verwandte McCartneys interviewt. Seine Darstellung entstand zwar nicht in Zusammenarbeit mit dem Künstler, wurde von diesem aber wohlwollend unterstützt. Dass Norman trotzdem nicht in Ehrfurcht erstarrt, ist nicht selbstverständlich, aber Voraussetzung für eine ernst zu nehmende Auseinandersetzung. Paul McCartney hat viel dafür getan, seinem früh erworbenen Image als „netter Beatle“ gerecht zu bleiben, ohne Fehl und Tadel ist der zum Ritter geschlagene Musiker aber natürlich nicht. Häufig wechselnde oder gleichzeitig stattfindende Liebesbeziehungen vor seiner Hochzeit mit Linda, ein übergriffiges Verhalten seinen Band-Kollegen bei den Beatles und Wings gegenüber, ein ausgeprägter Ehrgeiz und ein bisweilen bedenklicher Drogenkonsum kratzen an dem Image des Mannes, der zudem unter dem gelegentlichen und nicht unberechtigten Vorwurf der künstlerischen Belanglosigkeit zu leiden hat. Mögen sich diese Facetten der Persönlichkeit im Laufe der Jahre immer wieder ihren Weg gesucht haben, so wird auch Norman nicht müde, diesen negativen Aspekten McCartneys Verdienste als Sänger, Komponist, musikalischer Avantgardist, Bassist oder auch Tierschutzaktivist entgegenzustellen. Eine differenzierte Betrachtung des Liverpooler Musikers kann sich spätestens nach dieser Biografie nicht mehr auf das von der Kritik lange gepflegte Bild des seichten Popstars beziehen.
Wenn es ein großes Verdienst von Philip Norman ist, die Karriere McCartneys in seiner Gesamtheit nachzuzeichnen, so fallen in der Biografie doch auch Schwächen auf. So sehr der Autor an der Person des Künstlers interessiert ist, so beiläufig wird das Werk McCartneys behandelt. Die kurzen Besprechungen der Beatles-Platten gehen auf die seit langem bekannten Analysen zurück und bieten keine neuen Informationen. Bei den Wings- oder Solo-Alben sind es dagegen oftmals nur die autobiografischen Bezüge, die Norman interessieren. Doch bieten auch diese Songs genauso wie das stilistisch weit aufgefächerte Spätwerk mit den experimentellen Ansätzen vielfältige und lohnende Anknüpfungspunkte für eine weitere Beschäftigung. Geradezu ärgerlich ist jedoch, wie umfangreich und detailliert die Beziehung zu Heather Mills, die in einem unerfreulichen Scheidungsverfahren endete, ausgebreitet wird. Philip Norman macht deutlich, dass er sich der öffentlichen Meinung über die zweite Ehefrau von Paul McCartney angeschlossen hat. Der Autor lässt hier über mehrere Kapitel hinweg gerade die Objektivität vermissen, die seine Biografie ansonsten auszeichnet. Man kann sich nur wünschen, dass diese Seiten in einer Neuauflage gekürzt werden, denn gerade die letztjährigen Kooperationen mit Diana Krall, den Foo Fighters, Rihanna und Kanye West zeigen, dass Paul McCartney willens und in der Lage ist, persönlichen Schicksalsschlägen künstlerische Bedeutung entgegenzusetzen.
Michael Stapper
München, 05.08.2017