Carlin, Peter Ames: Die Biografie. Aus dem Engl. von Kirsten Borchardt. – Höfen: Hannibal, 2010. – 476 S.: 29 s/w-Fotos
ISBN 978-3-85445-317-8 : € 29,95 (geb.)
Weitgehend unbeachtet von der musikinteressierten Öffentlichkeit, erschien im Februar eine Biografie, die Leben und Werk von Paul McCartney gewidmet ist. Verglichen mit dem medialen Sturm, den Philip Normans Lennon-Buch vor zwei Jahren auslöste, verwundert dies ein wenig. Denn neben einer stattlichen Seitenzahl kann auch PeterAmes Carlin manch pikantes Detail vorweisen oder liefert Interpretationsansätze, die der lange herrschenden Lehrmeinung widersprechen. Das journalistische Desinteresse mag einerseits an der porträtierten Person liegen: McCartney fehlt es nicht an Talent, wohl aber an öffentlichkeitswirksamer Tragik. Zwar war auch für den Liverpooler Bassisten das Leben kein immerwährendes Kirchweihfest, doch scheinen die Schicksalsschläge (der frühe Tod der Mutter und der Ehefrau) nicht die existentiellen (und damit faszinierenden) Ausmaße wie bei Lennon erreicht zu haben. Zum anderen gelingtes Carlin im Gegensatz zu Norman nicht, die konzentrierte Sichtweise auf den Künstler bis zum Ende durchzuhalten.
Peter Ames Carlin, der bereits eine beachtete Biografie über Brian Wilson vorgelegt hat, beleuchtet vor allem die Entwicklung des Arbeiterkindes McCartney, das – ebenso begabt wie ambitioniert – innerhalb weniger Jahre zu einem weltweit erfolgreichen und respektierten Musiker wurde. Dass der Autor charakterliche Schwächen nicht ausklammert (unter McCartneys Ehrgeiz, Hang zu Intrigen und Egoismus litten sowohl Beatles- als auch Wings-Kollegen), spricht ebenso für eine objektive Sichtweise wie die Betonung des kreativen Potenzials, das selbst das von John Lennon übertraf. Nun sind das nicht durchweg neue Erkenntnisse. In seiner wegweisenden Arbeit Many Years From Now hat Barry Miles schon vor über zehn Jahren in letztere Kerbe geschlagen, und auch McCartney selbst ist an einer genaueren Geschichtsschreibung seit langem interessiert. Dass Carlins Versuche, an der Neubewertung des Bildes mitzuwirken, mitunter verpuffen, mag auch daran liegen, dass der dramatische Handlungsbogen ab der zweiten Buchhälfte abflacht. Dem starken Einstieg in die Beatles-Jahre folgen gut durchdachte Betrachtungen über die Wings und die 1970er Jahre, doch danach scheint das Interesse des Autors an McCartney nachzulassen. Natürlich werden die Solo-Projekte vorgestellt; auch gelingt es Carlin, Struktur in die immerhin drei Dekaden währende Zeit nach 1980 zu bringen. Doch wird es dem Künstler schlichtweg nicht gerecht, wenn drei der für die eigene Biografie essentiellen Projekte (das Liverpool Oratorio, die Arbeiten unter dem Pseudonym The Fireman und die Malerei) auf nicht einmal eineinhalb Seiten abgehandelt werden. Hier hätten sich sorgfältigere Recherchen durchaus gelohnt. Denn dass Carlin in der Lage ist, Fakten gewissenhaft zu sammeln und zu interpretieren, hat er in der ersten Buchhälfte bewiesen.
Michael Stapper
Zuerst veröffentlicht in FM 31 (2010), S. 175f.