Musikwelten – Lebenswelten. Jüdische Identitätssuche in der deutschen Musikkultur / Hrsg. von Beatrix Borchard und Heidy Zimmermann. – Köln: Böhlau, 2009. – 406 S., Abb. (Reihe Jüdische Moderne ; 9)
ISBN 978-3-412-20254-5 : € 49,90 (geb.)
Dieser Sammelband und die Hamburger Tagung, auf die er zurückgeht, zum 100. Todestag des Geigers, Musikpädagogen und Komponisten Joseph Joachim (1831–1907) im Jahr 2007 markieren tatsächlich eine Wende in der Erforschung jüdischer Lebensläufein der deutschen Musikkultur. Über Joachim hinausgehend, dessen Entwicklung gerne als Beispiel für eine „gelungene“ Akkulturation eines aus dem Judentum kommenden deutschen Musikers herangezogen wird, weitet sich hier der Blick auf schwierige Einzelschicksale und problematische interkulturelle Zwangsverhältnisse, wie sie durch den deutsch-christlichen Anpassungsdruck gegenüber jüdischen Künstlern und durch unterschiedliche kulturelle Selbstbehauptungsreflexe von Seiten der bedrängten Musiker ausgelöst wurden. Äußerst sinnvoll umspannt dieser Band einen Zeitraum von Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit nach 1945, in dem sich im Kern die Kämpfe um die Emanzipation der Juden abspielten und mit dem nationalsozialistischen Völkermord an den Juden ein vorläufiges Ende fanden. Dass der Juden-Genozid weder das letzte Wort in dieser Geschichte noch der zentrale Fluchtpunkt ist, von dem aus zwangsläufig alles in früherer Zeit Geschehene interpretiert werden muss, ist eine für die Analyse von Lebensläufen aus dem 19. und 20. Jahrhundert produktive Einstellung, die zu neuen Perspektiven führt. Auch werden hier zum ersten Mal nicht nur die Debatten, die sich um die judenfeindlichen und antisemitischen Pamphlete deutscher Künstler und Politiker drehten, berücksichtigt, sondern auch die innerjüdische Diskussion um Fragen jüdischer Musik dargestellt.
„[D]as Ausmaß der Annäherung von Juden an die Mehrheitskultur (war) so unterschiedlich, die Bedingungen und Lösungen so vielfältig, dass jede Verallgemeinerung unangemessen erscheint.“ (S. 14) Diese Grundeinsicht, von Heidy Zimmermann im ersten Beitrag des Buches, der die Probleme aufreißt, formuliert, kann als Leitfaden des ganzen Bandes dienen, an dem auch die Qualität der einzelnen Beiträge zu messen ist. Es ist von den Schicksalen der betroffenen Juden und ihrer kulturellen Lebenssituation auszugehen und zu fragen, wie sie sich zwischen den überlieferten, mit Religion eng verknüpften Traditionen ihres zerstreuten Volkes und den deutschen Standards entschieden. Eine Reihe von Fallstudien gibt über die innere Problematik dieser Lebensläufe Auskunft. Während im Falle Joachims die Beiträge von Borchard und Beate Angelika Kraus ganz darauf hinauslaufen, er habe das deutsche kunstreligiöse Ideal, wie Beethoven es ins Leben rief, propagiert, wird diese Perspektive durch Reinhard Kapps Hinweis auf Joachims eingestellte kompositorischeArbeit, zu der immerhin solche Stücke wie Hebräische Melodien gehörten, relativiert. Erst dadurch entsteht ein ambivalentes Bild Joachims.
„Der kulturgeschichtliche Blick auf Musikerinnen und Musiker jüdischer Herkunft wird daher in Rechnung stellen, welche persönlichen, familiären, ethnischen, religiösen, sozialen und kulturellen Impulse ihre Identität konstituieren“ (S. 30). Damit steht auch dieses Buch erst am Anfang, aber er ist immerhin gemacht und weitere Beiträge, die sich auch mit Salomon Sulzer (Wien), Julius Stern (Berlin), mit dem politischen und religiösen Liberalismus von Brahms, mit Arnold und Alma Rosé sowie mit Musik im NS-Lagersystem befassen, versuchen diesem Anspruch gerecht zuwerden.
„Die Konversion war ohnehin noch bis 1918 Bedingung einer akademischen oder institutionellen Karriere.“ (S. 16) Auch damit hat Zimmermann Recht. Umso seltsamer, dass einer der ganz wenigen, dem es trotz seines Judentums im Kaiserreich gelang, ein Ordinariat zu bekleiden und der ein Musikwissenschaftler war, in diesem Buch nicht einmal erwähnt wird.
Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 31 (2010), S. 179f.