Zwischen schöpferischer Individualität und künstlerischer Selbstverleugnung. Zur musikalischen Aufführungspraxis im 19. Jahrhundert / Hrsg. von Claudio Bacciagaluppi, Roman Brotbeck und Anselm Gerhard. – Schliengen: Argus, 2009. – 209 S., zahlr. Notenbsp., 2 CD (Musikforschung der Hochschule der Künste Bern ; 2)
ISBN 978-3-941264-82-6 : € 46,00 (geb.)
An der Hochschule für Künste in Bern läuft ein interessantes Forschungsprojekt, das hier durch Tagungsbeiträge und Gespräche dokumentiert ist und das Musikhistoriker und ausführende Musiker vereinigt, um ein rätselhaftes und ungeklärtes Phänomen der Musikpraxis zu klären: Seit wann und warum gibt es den monumentalistischen, bräsigen Aufführungsstil, den man gemeinhin als „romantisch“ oder als ein Relikt des 19. Jahrhunderts ansieht? Das 20. Jahrhundert, in dessen erster Hälfte dieser Stil seinen Höhepunkt erreichte, entpuppt sich in dieser Hinsicht aber weniger als ein verlängertes 19., sondern das 19. eher als eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, wenn sich überhaupt und speziell auch in der musikalischen Aufführungspraxis solche Zäsuren nach Jahrhunderten ziehen lassen. Die großspurige Interpretationswut deutscher Musiker wurde ja schon in den 20er Jahren von Ravel bespöttelt mit der Bemerkung: „Sie wollen immer interpretieren, mir würde es ja schon reichen, wenn man die Musik einfach spielte.“
Anhand von frühen, hier vorgestellten, beschriebenen und interpretierten Tondokumenten aus der vorletzten Jahrhundertwende, auf denen noch die romantischen Komponisten selber oder deren unmittelbare Schüler und Enkelschüler spielen, ist von dieser verlangsamten, breiten, undifferenzierten Flächigkeit und von diesem homogenen Klangideal überhaupt noch nichts zu hören. Von ihnen ausgehend sollte aber ein Rückschluss auf die musikalischen Vortragsauffassungen der Komponisten selber möglich sein. Auch die Gesangs- und Instrumentalschulen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geben ein klares Bild: Sie kennen noch die rhetorische Deklamation, die ausdifferenzierte Dynamik und Agogik, und die Tempi waren nach den Metronomangaben relativ zügig gemeint. Ein treffsicheres Beispiel ist die auch auf der zweiten der beigefügten CDs hörbare Gegenüberstellung eines Brahms-Walzers, einmal gespielt von Alfred Grünfeld im Jahre 1911, das andermal von Stephen Bishop Kovacevich 1995: Donnernd und aufgeplustert pompös klingt er erst in der letzteren Aufnahme.
Was sich bei Czerny/Beethoven, Schubert, Chopin, Schumann und Grieg anhand von deren Instruktionen in der Notation und eben auch an den Vortragsbeispielen noch relativ eindeutig klären lässt, wird bei den in sich widersprüchlichen Bemerkungen Richard Wagners undeutlich und verschwommen; und so wird klar, dass es die Krise des Wagner-Gesangs nicht erst seit heute gibt, sondern immer schon gab,weil das Wagnersche Konzept selbst konfus ist, zwischen Textdeklamation, endloser Melodie und aufrauschendem Orchesterklang schwankt. In einem angeblichen Drama, in dem wenig passiert, sangen sich immer schon die Sängerinnen und Sänger ihre Kehlen wund (Hauptsache: nicht italienisch!) und wurden dafür kritisiert.
Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 31 (2010), S. 181f.