Wellmer, Albrecht: Versuch über Musik und Sprache. – München: Hanser, 2009. –324 S. (edition akzente)
ISBN 978-3-446-23288-4 : € 21,50 (kart.)
Warum denkt man bei einer bestimmten Beethoven-Sonate an Mondschein, bei einer bestimmten Mozart-Sinfonie an Jupiter, bei einer bestimmten Chopin-Etüde an Regentropfen? Weil sich die verirrten Assoziationen irgendeines Hörers, der meinte, seine subjektiven Projektionen veröffentlichen zu müssen, auf plumpeste Weise einbürgerten und weil die meisten Musikenthusiasten meinen, Musik habe einen „Weltbezug“, der sich benennen ließe. Aus dem gleichen Grunde glauben Menschen nach dem Hören einer Bach-Kantate an Gott oder nach dem einer Eisler-Kantate an den Kommunismus. Der Missbrauch von Musik für die Absonderung von Bekenntnissen und Überzeugungen ist weit verbreitet und erfährt hier in diesem Buch des Philosophen Wellmer seinen schwankenden Überbau. Aus philosophischem Übermut versucht Wellmer, falsche Fragestellungen an die Musik heranzutragen, gegen die sich gute Musik seit eh und je gesträubt hat. Der Inhalt oder Sinn von Musik liegt gewiss nicht in ihrem Bezug auf Außermusikalisches, als wäre sie nur Mittel zum Begreifen eines höheren Zweckes, sondern sie genügt sich selber und kann dem Hörer zu allerlei Zwecken, denen der Zerstreuung, des Genusses, der Identifikation, der Erbauung, des Trostes, der Nachdenklichkeit etc., dienen. Sie drückt nicht etwas anderes aus (allenfalls könnte man über Vergleiche jederzeit empfinden, dies oder jenes klinge so, wie wenn …, oder so, als ob …), sondern sie hat einen Ausdruck, der im Rahmen der Aufführung richtig getroffen werden möchte (warum stört es, wenn Lotte Lehmann Paminas todessüchtige Verzweiflungsarie wie eine Wutarie singt, d.h. den Ausdruck der Musik verfehlt?). Sie ist ein in sich und für sich bedeutungsvolles Spiel von Tönen und Klängen und nicht Zeichen für etwas Nichtmusikalisches. Dass sie auch von Seiten der Komponisten oft mehr als Musik sein soll, hat fast genauso oft zu schlechter, prätentiöser Musik geführt.
Damit kann sich natürlich ein philosophisch geschulter Kopf nicht zufrieden geben. Wellmers Buch will zwar Adornos Musikphilosophie weiterentwickeln, befindet sich aber, wie bei allen doktrinären Denkgebäuden, dermaßen in deren Abhängigkeit, dass sich sein Denken sklavisch nur von einem autoritativ eingesetzten Adorno-Zitat zum nächsten vollzieht. Die Brücke, die Wellmer bei seinem „semantisierenden Hören“ von Musik glaubt, erfolgreich begehen zu können, ist die Eselsbrücke der Sprachähnlichkeit von Musik. Es gibt eine Sparte der Musikanalyse, die sich terminologisch Begriffen aus der Grammatik bedient, um formale Strukturen von Musik zu beschreiben. Auch gibt es sprachgebundene Musik, deren Ausdruck (siehe Pamina) sehr eng an Worte gebunden ist wie alle vokale oder vokal-instrumentale Musik. Daraus aber den Schluss zu ziehen, Musik sei ein Bedeutungsträger wie die Wortsprache, ist ein philosophisch verstiegener Irrtum. Nicht umsonst hatte deswegen schon Rameau einmal gemeint, man müsste die Worte entfernen, um die Wahrhaftigkeit des musikalischen Ausdrucks feststellen zu können, womit er jedoch fast schon zu viel Eindeutigkeit von der Musik verlangte. Stets noch haben alle Musikphilosophen vor der in ihrem Sinne peinlich bedeutungslosen Musik von Mozart kapitulieren müssen.
Und beim Anhören des langsamen Satzes aus Mozarts Klavierkonzert C-Dur KV 467 geht es Wellmer wie Lieschen Müller: Er denkt einfach nur an Elvira Madigan.
Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 31 (2010), S. 186f.