Jerome Kohl: Karlheinz Stockhausen: Zeitmaße [Markus Bandur]

Kohl, Jerome: Karlheinz Stockhausen: Zeitmaße. – Abingdon [u.a.]: Routledge, 2017. – XIV, 163 S.: s/w-Abb., CD, Bibliographie, Diskographie, Register (Landmarks in Music since 1950)
ISBN 978-0-754-65334-9 : £ 95,00 (geb.)

Die serielle Musik der 1950er Jahre gilt vielen Zuhörern noch immer als spröde und unzugänglich. Gleichwohl sind zahlreiche Werke aus dieser Zeit wie Boulez’ Marteau sans maître oder Stockhausens Zeitmaße (von Tonbandkompositionen wie Der Gesang der Jünglinge und Gruppen für drei Orchester ganz abgesehen) zu veritablen Klassikern geworden: Sie gehören trotz ihrer häufig großen technischen Schwierigkeiten mittlerweile zum Standardrepertoire vieler avancierter Ensembles und sind – zumindest bei den etwas mutigeren Veranstaltungsplanern – durchaus geschätzte Bestandteile ambitionierter Konzertprogramme. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit den kompositorischen Techniken und den ästhetischen Hintergründen dieser Werke, die einen ersten Höhepunkt der neuen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg markieren, findet allerdings vorwiegend lediglich in den spezialisierten Kreisen der Musikwissenschaft statt und erreicht nur selten jene breiteren Zuhörerkreise, die abseits von den knappen Informationen der Programmhefte näheren Aufschluss über die Hintergründe suchen.
Jerome Kohls Buch über Stockhausens einflußreiche Komposition Zeitmaße für Oboe, Flöte, Englischhorn, Klarinette und Fagott (entstanden in den Jahren 1955–56) kann den Anspruch erheben, zumindest im englischsprachigen Raum die Schere zwischen den Ansprüchen der Wissenschaft und dem eher unakademischen Informationsinteresse zu schließen. Wer einen Einstieg in die schwierige Materie des seriellen Komponierens sucht, der englischen Sprache mächtig ist und keine Angst vor Notenbeispielen und Tabellen hat, findet in Kohls Untersuchung nicht nur eine kompetente Auseinandersetzung mit einem der Schlüsselwerke der seriellen Musik, sondern zugleich eine lebendige und umfassende Darstellung der zugrundeliegenden ästhetischen Fragestellungen. Ausgehend von Stockhausens früher kompositorischer Entwicklung, dem Aufkommen eines neuen Musikbegriffs und dem intensiven Arbeiten an immer neuen Lösungen für die Schaffung einer kohärenten Technik der Gestaltung von musikalischer Zeit, gelingt es Jerome Kohl, nachdrücklich deutlich zu machen, dass es sich bei der seriellen Herangehensweise keineswegs primär um eine bloß technische ,Spielerei‘ – oder gar Selbstzweck – handelt, sondern um eine Art Werkzeug, um die individuelle Werkgestalt (unabhängig davon, ob sie in den überlieferten Kategorien wie Aussage, Gehalt oder Ausdruck zu fassen ist) durch die dahinterstehende kompositorische Ordnung so reichhaltig wie möglich auszuarbeiten. Es ist gerade die Stärke dieses Buchs, dass der überaus akribische Nachvollzug der kompositorischen Planungen, der nicht zuletzt auf Kohls umfassendes Studium der Skizzen zurückgeht, sich nicht im Auffinden und Darstellen der hinter der technischen Faktur stehenden Systematik erschöpft, sondern immer auch darauf aufbauend die werkspezifischen Gründe für diese oder jene kompositorische Entscheidung erläutert. Es ist nachgerade spannend zu lesen, wie sich aus der minutiösen Behandlung vermeintlich nur abstrakter und primär den Spezialisten vorbehaltenen Details das Profil einer konkreten Werkgestalt herausschält, die als Ausgangspunkt und Ziel der kompositorischen Intention zu gelten hat.
Jerome Kohls Studie gelingt es wie nur wenigen wissenschaftlichen Darstellungen zu den frühen Jahre der seriellen Musik, herauszuarbeiten, dass das Leitbild dieser kompositorischen Herangehensweise auf das engste mit grundlegenden Fragestellungen der musikalischen Ästhetik – wenn nicht des Musikalischen überhaupt – verknüpft ist. Diese exemplarische Auseinandersetzung mit Stockhausens Komposition Zeitmaße, deren Einfluß auf spätere Komponisten bis in die Gegenwart Kohl in einem abschließenden Kapitel zur Rezeption des Werkes darlegt, zeigt, wie wichtig eine solche Untersuchung für das Verständnis nicht nur des seriellen Komponierens allgemein, sondern auch der Werke selbst ist. Nach der Lektüre dieses Buches gibt es wohl keinen aufgeschlossenen Leser, der eine Komposition wie Zeitmaße noch immer für spröde oder unzugänglich hält. Anhand der sorgfältig ausgewählten Einspielung des Werks durch das Danzi-Quintett (mit Heinz Holliger, Oboe), die auf der beiliegenden Compact Disc enthalten ist und in besonderem Maße auch den musikalischen Esprit und Witz von Zeitmaße aufscheinen lässt, darf die Probe aufs Exempel gemacht werden.
Inhalt

Markus Bandur
Berlin, 30.03.2017

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