Meijer, Gerrit: Berlin, Punk, PVC – Die unzensierte Geschichte. – Berlin: Verlag Neues Leben, 2016. – 256 S.: 39 s/w-Abb.
ISBN 978-3-355-01849-4 : € 19,99 (Klappenbrosch.; auch als e-book)
Das Berliner Stadtmagazin TIP widmete sich in seiner Ausgabe Nr. 7 (31.3. – 14.4.1978) unter den Schlagzeilen PUNK IN BERLIN / Krach in Kreuzberg / Pogo am Kudamm einem Phänomen, das in der Mauerstadt noch relativ jung war. Den ersten Artikel zum Thema, von Barry Graves geschrieben, leitete ein halbseitiges Foto ein, auf dem Gerrit Meijer mit seiner Band PVC zu sehen ist. Auf der nachfolgenden Seite waren Stammgäste des Berliner PUNK HOUSE vor Ort am Lehniner Platz porträtiert, im Zentrum: Gerrit Meijer. Die überwiegend jüngeren regelmäßigen Besucher der Punkdisco im alten westlichen Zentrum der Stadt, darunter auch der Verfasser dieser Rezension, gingen zu Meijer eher auf respektvolle Distanz, einerseits weil der bereits 1947 geborene Gitarrist schon einige Lebenserfahrung und viel Coolness hatte und andererseits weil PVC in Berlin bereits zu gewisser Prominenz gelangt waren.
Der Begriff „Punk “ war um 1977 allerdings nicht ganz so neu, wie es schien, denn er war im pophistorischen Kontext bereits in Gebrauch, als es darum ging, den Stil amerikanischer und englischer „Garagen“-Bands zu kennzeichnen, die Ende der 1960er Jahre psychedelische Rockmusik in besonders rauher, simplifizierter und effektiver Weise darboten.
Die noch wesentlich rohere, minimalistischere, brachialere und oft temporeichere Variante des Rock, die dann ab ca. 1976/77 unter dem nun sehr plakativ und werbewirksam gebrauchten Etikett „Punk Rock“ in England und den USA entstand, hatte nichts psychedelisches mehr, speziell die Texte waren in ihrer Direktheit und kritischen Gegenwarts- und Alltagsbezogenheit gänzlich neu.
Schnell etablierte sich Punk Rock als neue Jugendbewegung, die in kurzer Zeit auch in der Bundesrepublik Deutschland wahrgenommen und adaptiert wurde. Der sogenannte Deutsche Herbst, jene bleierne Zeit, in der der aussichtslose Kampf der Rote Armee Fraktion mit Rasterfahndungen und massenhaften Wohnungsdurchsuchungen und Verdächtigungen unbeteiligter Bürger durch die BRD-Behörden beantwortet wurde, war ein geeigneter Nährboden für heranwachsende Punk-Rebellen. Speziell Westberlin, wo erst eine Dekade vorher die Außerparlamentarische Opposition und die „Kommune 1“ für Schlagzeilen gesorgt hatten und wo durch den Zuzug junger, oft politisierter Kriegsdienstflüchtlinge aus Westdeutschland ein ganz besonderes kreativ-kritisches Klima herrschte, war der ideale Schauplatz für Punk made in Germany. Gerrit Meijer wuchs in der Mauerstadt auf und beginnt sein Buch mit Schilderungen seines Heranwachsens Zwischen Trümmern und Twist (S. 9). Seine musikalischen Anfänge als Gitarrist in Beatbands beschreibt er genauso unprätentiös und anschaulich aus eigenem Erleben, wie das Entstehen einer Westberliner Subkultur Ende der 1960er Jahre.
In Anlehnung an das legendäre Stück Anarchy in the UK, der englischen Punk-Pioniere Sex Pistols nennt Meijer das Kapitel, in dem er seine Transformation zum Punker beschreibt, Anarchy in Westberlin (S. 61). Meijers Band PVC wird im Frühjahr/Sommer 1977 gegründet, wie dort zu lesen ist. Auf einer großen Bühne stehen die Musiker erstmals im September 1977, da sie als Vorgruppe zu einem Auftritt von Iggy Pop im Konzertsaal der Hochschule der Künste (HdK) spielen dürfen. Im Text ist von der (an anderem Ort in der Stadt beheimateten) „Akademie der Künste“ die Rede (S. 82). Hier hatte Meijer wohl die Erinnerung, – oder der Lektor seines Buches bereits den Verlag verlassen. Der Verfasser dieser Rezension ist sich diesbezüglich sicher, er war selbst damals im Publikum.
Schnell steigen PVC zu lokaler Größe auf und gewinnen auch überregional Anerkennung, doch spätestens 1984 ist es mit dem bescheidenen Ruhm vorbei, nicht jedoch mit Gerrit Meijers Musikertätigkeit. Er hatte inzwischen die Band White Russia gegründet, der jedoch ebenfalls nur ein kurzer Ruhm beschert ist. Insgesamt fehlte es beiden Formationen an eigenständig kreativer Kraft und der Fähigkeit sich von den englischsprachigen Vorbildern zu lösen. Zum Abstieg in den Pop-Mainstream und dem damit meist verbundenen finanziellen Aufstieg, wie ihn Spaß- und Party-Punks wie Die Toten Hosen oder Die Ärzte vollzogen, waren Meijer und seine Mitmusiker nicht bereit. Die Gefahr einer Vereinnahmung durch das kulturelle Establishment, wie bei den ungleich innovativeren Einstürzenden Neubauten, deren Karriere vom Kellerloch in die Elbphilharmonie führen sollte, bestand ohnehin nicht.
Auch war PVC sicher nicht die „erste deutsche Punkband“, wie der Verlag im Buchrückentext behauptet, da hätten die Jungs von Male und die Big Balls and the Great White Idiot noch ein Wörtchen mitzureden.
Hochstapelei ist ohnehin nicht Meijers Sache, er beeindruckt stattdessen mit Beobachtungsgabe und Witz. So legt Meijer mit seinem Buch eine subjektive, „unzensierte Geschichte“ vor, indem er aus seinem Musikerleben erzählt, das eng mit Berlin und dem Zeitgeist der Jahre vor der „Wende“ verknüpft ist. Die Zeit nach dem Fall der Mauer ist genauso Thema wie Ein neues Jahrtausend (Kapitel 11, S. 221), dabei wird deutlich: Meijers Verdienst ist es, jene unteren Nischen und Ecken des Kulturbetriebs zu beleuchten, die die kulturelle „Szene“ einer Stadt konstituieren und die zu jener breitgefächerten Lebendigkeit und Anziehungskraft führen, mit der gerne offiziell geworben wird. Gerrit Meijer erzählt lakonisch und intelligent und ohne überflüssige Verklärung der selbst erlebten Ereignisse, die längst Bestandteil des Mythos Westberlin geworden sind. Seine Schilderung ist großartig, das Buch erschien im Verlag „Neues Leben“. Ein solches hätte man dem mit 69 Jahren im Februar 2017 viel zu früh verstorbenen Rebellen gewünscht.
Blick in’s Buch
Manfred Miersch
Berlin, 18.04.2017