Mendívil, Julio: Ein musikalisches Stück Heimat. Ethnologische Beobachtungen zum deutschen Schlager. – Bielefeld: Transcript, 2008. – 386 S.: Notenbsp., Abb. (Studien zur Popularmusik)
ISBN 978-3-89942-864-3 : € 32,80 (brosch.)
Gehören Schlager zur Nationalkultur im Land der Dichter und Denker? Als nichtwestlicher Ethnologe in Deutschland fühlte sich der Peruaner Julio Mendívil, Dozent am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Köln, von dieser akademischerseits regulär despektierlich verneinten Fragestellung zu einem kulturgeschichtlich spannenden Dissertationsprojekt inspiriert. Denn wie ein Genre, das Kölner Kommilitonen als spießig, dekadent und profitgeil abtaten, in weiten Bevölkerungskreisen unter dem Rubrum „deutscher Schlager“ umgekehrt zu einem Faktor von Lebensqualität und kollektiver Identitätsbildung avancierte, war – zumal mit ethnographischen Methoden – noch nicht eruiert worden.
Weit entfernt von trockener Gelehrsamkeit lädt Mendívil zu einer abenteuerreichen Expedition, auf der sich autobiographische, wissenschaftstheoretische und genregeschichtliche Stationen, garniert mit realen und fiktiven Szenarien, Informanten-Statements, prägnanten Praxisbeispielen und ironischen Spitzen, zu einem profunden Ganzen addieren.
Teilhaben darf man eingangs an der lieben Not, sich mit empirischer Feldforschung an die Schlagerwelt heranzutasten. Schließlich ereigne sich diese „in einer undefinierbaren Mischung der von Appadurai als scapes bezeichneten globalen Sphären“(S. 28). Entsprechend up to date haben die postmoderne und reflexive Musikethnologie sowie die Tradition der Cultural Studies Pate gestanden – worüber Teil I, eine zitatreiche Paradigmengeschichte der Ethnologie, informiert. Und erst nach einer brillanten Decouvrierung eindimensionaler U-Musik-Verdikte, allen voran Adorno, steht die Devise: den Schlager „als ein Gewebe von Texten, die erst in ihrer Zirkulation mit Bedeutungen ausgestattet werden“ (S. 117), zu untersuchen.
Schrittweise steuert Teil II der Kernfrage zu. Ein sprachliches Zeichensystem, zentral jedoch Foucaults Diskurstheorie, liefern eine definitorische Handhabe: Schlager sind, was eine Schlagergemeinde darunter versteht und zugleich aus verschiedener Warte, seien es Produzenten, Rezipienten oder Historiker, diskutiert wird. Unter diesem Aspekt folgt ein historischer Abriss über die dominierenden Begriffswandlungen vom 19. Jahrhundert bis heute. Dann das Entscheidende: Die kulturbildende Konstruktion von Identität und Heimat, eine „Rebellion der Konservativen“ gegen psychosozial verunsichernde Trends (z.B. Pop-Welle), verlaufe via Ausgrenzung eines austauschbaren Anderen und schaffe Formen emotional besetzter Refugien (z.B. Ballermann-Szene). Dennoch werde Diskursfremdes u.U. eingepasst, so etwa das elektronische Instrumentarium im volkstümlichen Schlager. Schlagerforschern gibt Mendívil den Tipp, gerade die individuell differenten sozialen und persönlichen Biographien ihrer Objekte zu fokussieren.
Andreas Vollberg
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 31 (2010), S. 185f.