Archive zur Musikkultur nach 1945. Verzeichnis und Texte / Hrsg. von Antje Kalcher und Dietmar Schenk, mit einem Vorwort von Dietmar Schenk, Dörte Schmidt und Thomas Schipperges. – München: edition text + kritik, 2016. – 776 S.: s/w-Abb., 1 CD-ROM. (Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit)
ISBN 978-3-86916-497-7 : € 68,00 (brosch.)
Bibliotheken müssen genutzt, Museen besucht werden, Archive aber, gar Privatsammlungen, dürfen jahrzehnte- wenn nicht jahrhundertelang im Verborgenen schlummern, bis sie aus dem Dornröschenschlaf gerissen und in das grelle Licht der Forschung gezerrt werden. Und doch sind die Grenzlinien zwischen den Sammlungseinrichtungen unscharf, denn Archive können Bibliotheken betreiben und kaum ein größeres Museum kann auf ein eigenes Archiv verzichten. Terminologische Abgrenzungen scheitern hier rasch an der gegenseitigen Durchlässigkeit des zu Trennenden. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes über die Archive zur Musikkultur nach 1945 sahen sich durch die enorme Fülle allein der bislang vorliegenden Archivverzeichnisse gezwungen, ein Regelwerk für die Auswahl derjenigen archivarischen Einrichtungen zu erstellen, die sie für würdig befanden, in das vorliegende Verzeichnis aufgenommen zu werden (worunter sich einige wenige Museen, aber etliche Bibliotheken wiederfinden). Die Kriterien, wie sie auf den Seiten 10 bis 13, detaillierter noch und systematisiert auf den Seiten 741 bis 746 vorgestellt werden, sind gewiss plausibel – und doch bleiben manche Bewertungsstrategien im Dunkel. Zu hinterfragen wäre allein schon die räumliche Begrenzung auf Archive und Nachlasssammlungen in Deutschland. Denn etliche Sammlungen deutscher Provenienz sind in Archiven außerhalb Deutschlands zu finden, ganz zu schweigen von den Nachlässen deutscher Exilanten. (Vermutlich die meisten Forschungsprojekte, die von den Herausgebern im Rahmen der Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit betreut werden, basieren auf derartigen Sammlungen). Und was der auf Vollständigkeit suggerierende Titel und der Rückentext verschweigen: einzelne (wenige) Archivsparten werden nur gestreift. So wird der Leser, der das Buch nach Informationen zu Tonträgerbeständen in Rundfunk- oder Schallplattenfirmen durchgeht, enttäuscht werden, selbst wenn er in den Hinweisen zur Nutzung des Verzeichnisses die Gründe für die Auslassung erfährt. (Tonträgerarchiven im Rundfunk kommt allein schon dadurch, abgesehen von ihrer kaum zu unterschätzenden Bedeutung für das Musikleben und die Musikgeschichte im 20. Jahrhundert insgesamt, eine Sonderstellung zu, weil sie auch durch die Nutzung wachsen: O-Töne und Musik aus ihren Beständen werden Bestandteil neuer, neu zu archivierender Sendungen).
Das Buch ist in zwei Hauptteile gegliedert: Dem Textteil mit 23 Beiträgen verschiedener Autoren, der mehr als ein Viertel des Buches ausmacht, folgt das eigentliche Verzeichnis der Musikarchive.
Die Beiträge des Textteils entstammen in einigen Fällen dem akademischen Umfeld; der Großteil der Autorinnen und Autoren wurde jedoch, wie die Herausgeber schreiben, im Verlauf der Projektarbeiten, vorwiegend bei Archivbesuchen, gefunden und zu einem Beitrag ermuntert. Eine glückliche Idee, denn die Verknüpfung von Theorie und Praxis, die in den Beiträgen sehr unterschiedlich gewichtet ist, weitet die differenzierte Sicht auf den Themenkomplex. Auch wenn das sprachliche Niveau aufgrund dieses Verfahrens naturgemäß nicht ganz einheitlich ist, der fachliche Gewinn ist durchwegs hoch. Die fünf Themenkreise – zum „Prozess des Archivierens“, zu einzelnen Institutionen und Beständen oder zu „Archivarbeit und Erinnerungskultur“ – reichen von der Erörterung grundsätzlicher, archivarischer Fragen (zur Onlinerecherche, zur Bewertung von Archivalien, etc.) bis hin zur exemplarischen Erörterung spezieller Themen, die eine Ahnung von der Spannweite an Fragestellungen vermitteln: von der Suche etwa nach dem Nachlass der Konzertagentur Wolff über die Bestände zur frühen Geschichte der elektronischen Musik im Deutschen Museum in München oder einem Beitrag über das Archiv des International Tracing Service in Bad Arolsen.
Die knapp 1.400 Archive und Sammlungen des Verzeichnisses sind nach Bundesländern und darin nach Städten gegliedert. Brandenburg und das Saarland sind eher marginal vertreten; am anderen Ende steht die überaus reiche Archivkultur Berlins. Quantitativ überwiegen Stadt- und Landesarchive, die, wie in den inhaltlichen Hinweisen zu jedem Bestand ausführlich dargestellt wird, alles vom Kleinstbestand aus privater Hand bis zu international gewichtigen Sammlungen beherbergen können; als prominentes Beispiel wäre die Übergabe der Unterlagen aus den Jahren 1954 bis 1990 zu den Donaueschinger Musiktagen an das Stadtarchiv Donaueschingen zu nennen. Deutlich geringer ist die Anzahl kirchlicher Archive, Universitätsarchive und Bibliotheken mit historischen Sammlungen bzw. Museen. Eine Sonderstellung nehmen institutionell gebundene Archive ein, die ausschließlich der Musik gewidmet sind, so das Internationale Musikinstitut Darmstadt oder das Dokumentations- und Forschungszentrum des Deutschen Chorwesens in Feuchtwangen sowie der Nutzung enthobener Verlagsarchive. Eine vierte Gruppe bilden freie Archive, die häufig aus privater Initiative entstanden sind und im Rahmen einer Stiftungsgründung ihre Existenz bestreiten. Dazu zählen etwa die Franz Grothe Stiftung, die Stockhausen-Stiftung für Musik in Kürten oder das Lippmann+Rau-Musikarchiv in Eisenach.
Etliche Institutionen verwalten mehrere Nachlässe und Einzelarchive; diese werden unter dem Institutsnamen einzeln aufgeführt und beschrieben. Über 33 Seiten allein erstreckt sich die Liste teils sehr bedeutender Vor- und Nachlässe des Musikarchivs der Berliner Akademie der Künste! Alle Einträge des Verzeichnisses – es sei denn, sie fallen kursorisch in die Rubrik „Weitere Bestände“ – sind mit Beschreibungen zum Inhalt, dem Umfang und Anderem versehen. Das können bei Beständen und Sammlungen, die sich einer Person widmen, biografische Angaben sein, bei Archiven mit thematischem Sammlungsauftrag die Geschichte des Bestandsbildners, so beim „Archiv Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR“. Für Archive, deren Sammlungsauftrag erloschen ist, ist die Laufzeit angegeben (die Sammlung „Palast der Republik“ im Bundesarchiv beispielsweise wurde 1995 geschlossen).
Der Nutzen des Archivverzeichnisses wird mittels der dem Buch beigelegten CD entscheidend aufgewertet. Nach der Installation eines Readers kann über eine Volltextsuche, diverse Thesauri oder über Listen gesucht werden. Das geografisch sortierte Archivregister spiegelt die Systematik der Printversion wider, doch allein die Typologie der Bestandsbildner, die die Suche nach miteinander vergleichbaren Institutionen ermöglicht, offenbart dem Nutzer den Mehrwert der CD ganz unmittelbar. (Die Bereitstellung digitaler Daten auf einer CD-ROM, der nur ein Bruchteil der Lebensdauer des dazugehörenden Buches beschieden sein wird und deren Aktualität mit der wachsenden Distanz zum Redaktionsschluss kontinuierlich abnehmen wird, ist in der heutigen Zeit wohl doch schon wieder ein wenig fragwürdig: die Erstellung einer Online-Version sollte in absehbarer Zeit in Betracht gezogen werden). Bearbeitet wurde das Verzeichnis von Antje Kalcher, die auch mit einem Beitrag im Textteil vertreten ist.
Nicht nur für Musikwissenschaftler und -historiker wird dieses Buch bald einen festen Platz unter den nützlichen Nachschlagewerken gefunden haben. Auch Archivare, Bibliothekare, Dokumentare, Dramaturgen, Journalisten, Autoren, Musiker werden es in ihren Recherchen mit einbeziehen.
Inhaltsverzeichnis
Rüdiger Albrecht
Berlin, 09.02.2017