Musikwissenschaft und Vergangenheitspolitik. Forschung und Lehre im frühen Nachkriegsdeutschland / Hrsg. von Jörg Rothkamm und Thomas Schipperges – München: edition text + kritik, 2015. – 482 S., CD-ROM (Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit)
ISBN 978-3-86916-404-5 : € 65,00 (kt.)
Nun verfügen wir also über das Wort „Vergangenheitspolitik“. Es ist das Zauber- und Leitwort für eine zu Beginn des 21. Jahrhunderts entstehende Fachgeschichtsschreibung der Musikwissenschaft der Nachkriegszeit. Warum wurde das Wort Vergangenheitspolitik erfunden und was will oder kann es uns erklären? Macht man vielleicht selber so etwas wie Vergangenheitspolitik, indem man den Umgang der Musikwissenschaftler nach 1945 mit ihrer unmittelbaren Vergangenheit hochtrabend und etwas nebulös Vergangenheitspolitik nennt?
Was war, wenn nicht der einzige so doch der Hauptbefund und was das wohl-verstandene Hauptinteresse der Musikwissenschaftler nach 1945 in ihrem politisch motivierten Umgang mit ihrer eigenen Vergangenheit, die diesem Buch zu entnehmen sind? Eine (selbst)kritische Aufarbeitung der Vergangenheit, der Beziehung von deutscher Musikwissenschaft (ihrer Personen und Institutionen) zum Nationalsozialismus fand nach 1945 über einen längeren Zeitraum nicht statt. Jedenfalls nicht als Selbstbefragung und kritische Überwindung solcher Verquickungen vonseiten der Betroffenen, sondern höchstens als aufgezwungene Absolvierung von Entnazifizierungsverfahren mit entsprechenden Reinwaschungen. Eine wirkliche Aufarbeitung passierte dann anders, sie wurde erst später (in den 60er bis 80er Jahren) von einer anderen Generation und von außen, von nicht-deutschen Historikern und von außerhalb der Universität, von Forschern ohne akademische Titel und Stellungen (Joseph Wulf und Fred K. Prieberg), betrieben. Seltsam berührt es, dass diese Forschungen zwar punktuell auftauchen, aber (außer den Arbeiten von Pamela Potter) leider nicht in die gegebene Beschreibung des Forschungsstands, von dem auszugehen war (S. 2-5), eingeflossen sind.
Die Weigerung deutscher bestallter Musikwissenschaftler, sich mit ihren eigenen Verquickungen mit der Ideologie des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, war das Hauptmerkmal der Nachkriegs-Periode, und diese Weigerung geschah aus Gründen eines zunftinternen Opportunismus, um akademische Machtpositionen innerhalb des Fachs aufrechterhalten, wieder oder neu gewinnen zu können. Dass die intensive Beschäftigung damit heute denselben Zwecken diene, wird keiner behaupten wollen, dennoch irritiert die Konjunktur, die fachgeschichtliche Fragestellungen im allgemeinen plötzlich haben, und ist der neue Schwerpunkt auf die Nachkriegszeit mit gleich mehreren Projekten in Berlin und Tübingen auffällig, wobei von einer wünschenswerten Kooperation mit weiteren ähnlichen, auch erwähnten Projekten auszugehen ist.
Man stolpert auch in der zweiten Publikation der Schriftenreihe des DFG-geförderten Gesamtprojekts „Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit“ immer noch über eine vergangenheitspolitische Formulierung im Vorwort der Herausgeber: „Die mentalitätsgeschichtliche Sonderrolle von Musik für die deutsche Nachkriegsgesellschaft, ihre Funktion als vergangenheitspolitisch aufgeladenes Vehikel der Selbstbesinnung, Verständigung oder gar Versöhnung wurden dabei [bei der Neubewertung der zurückliegenden Jahrzehnte und ihres widersprüchlichen Umgangs mit der NS-Vergangenheit] mehrfach konstatiert, eine umfassende Beschreibung der deutschen Musikkultur nach 1945 steht bislang allerdings noch weitgehend aus“ (S. V). Den angehängten Halbsatz darf man wohl als Drohung verstehen, eine künftig zu leistende umfassende Beschreibung der deutschen Musikkultur nach 1945 unter den Leitstern der mentalitätsgeschichtlichen Sonderrolle von Musik zur Selbstbesinnung zu stellen. Dass dies nicht nur ein nebensächlicher Hinweis ist, zeigen ähnliche Formulierungen in der Einleitung der Herausgeber des hier vorliegenden Bandes der Schriftenreihe. Dort ist treffend von „dem Hintergrund der ideologisch aufgeladenen Rolle der Musik im NS-Staat“ die Rede, vom „spezifisch nationalen Musikstolz“ der NS-Zeit und dem „ostentativen Kult der Innerlichkeit“ des deutschen Bürgertums. Kann man hier zwar unterstellen, dass diese Formulierungen durchaus ideologiekritisch gemeint sind, so fehlt allerdings eine ausdrückliche Zurückweisung der „ideologisch aufgeladenen“, angeblichen Sonderrolle von Musik bei den Deutschen, denn die ideologische Aufladung besteht ja gerade in der Behauptung einer Sonderrolle der Musik für die Deutschen. In ihr wird ja nicht nur den Deutschen eine besondere Affinität zur Musik angedichtet, sondern auch für die Musik eine besondere Affinität zum Deutschtum postuliert. Hier gibt es eine Kontinuität vom 19. Jahrhundert her (denn der Ausspruch von der Musik als der „deutschesten der Künste“ stammt von Droysen) bis ins 20., da auch Thomas Mann meinte, diesen Wahn virulent halten zu müssen. Es ist etwas anderes, ob man den Musikmissbrauch für Zwecke der nationalen Identitätsbildung (gar „Versöhnung“ politisch entzweiter Bürger) konstatiert, oder ob man der Musik diese Rolle ernsthaft zuspricht. Hier kommt eventuell eine aktuelle Vergangenheitspolitik lebender Musikforscher gegenüber der ehemaligen Vergangenheitspolitik toter Musikforscher mit ins Spiel.
Der vorliegende Band präsentiert die Resultate eines methodisch durchdachten Forschungsprogramms, das sich bewusst auf die an den Universitäten und freien Forschungseinrichtungen institutionalisierte Musikwissenschaft beschränkt und alle diesbezüglichen öffentlich zugänglichen Quellen in den Archiven durchforstet hat. Eine ungeheure Fleißarbeit, die zu loben und zu würdigen ist, zumal sie auch dazu führt, mit ausführlichen Zitaten und durch eine angehängte CD-ROM (mit einem Verzeichnis der musikwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen an deutschen Hochschulen 1945-1955) erhebliche und teilweise erschreckende Einblicke in das innere Getriebe des Fachs zu gewähren. Ein großer Vorteil ist die Aufnahme von Darstellungen und Berichten auch über die Verhältnisse in der SBZ/DDR, obwohl kein vergleichendes oder synthetisierendes Verfahren angestrebt zu sein scheint. Die Schlussfolgerung, in Ostdeutschland seien Brüche, im Westen Kontinuitäten die Regel gewesen, scheint zwar triftig, lässt aber doch auch Fragen offen, welche die angeblichen Ausnahmen betreffen: im Osten den Fall Heinrich Besseler als Beispiel für Kontinuität, im Westen den Fall Heinrich Husmann als Zeichen für Bruch.
Im Gegensatz zur jahrzehntelang verschleppten Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in beiden deutschen Staaten (bedingt auch durch den Ausbruch des Kalten Krieges und des baldigen Missbrauchs der Musik für kulturpolitische Positionierungen im Ost-West-Konflikt) setzte die Auseinandersetzung mit der ideologischen Gängelung der Musikwissenschaft in der DDR relativ bald nach der sog. Wende ein. Das zeigen die hier bibliografierten und zitierten Arbeiten von Rudolf Eller (1994) und besonders von Lars Klingberg (seit 1994), der sie in diesem Band mit einem erhellenden Beitrag über Georg Knepler und dessen gescheiterte Publikationsprojekte fortsetzen kann.
Kurze Anmerkungen zu einzelnen weiteren Beiträgen: Rothkamm erweckt in seiner Darstellung der Rezeption neuer Musik im Fach Musikwissenschaft nach 1945 den Eindruck, als wäre allein eine nicht tabuisierte Beschäftigung mit neuer Musik schon ein Garant für Aufgeschlossenheit und Bruch mit der reaktionären politischen Vergangenheit. Die reaktionären politischen Ansichten einiger Neutöner (krasses Beispiel dafür ist Anton Webern in seiner späten Phase) lassen an diesem Anschein zweifeln. Rothkamms Darstellung der Karriere von Heinrich Husmann ist in sich widersprüchlich; einerseits behauptet er, Husmann sei schon in Leipzig vor 1945 nicht konform mit dem Nazi-Regime gegangen und hätte nach 1945 (bezogen auf das Verhältnis von historischer, systematischer und/oder vergleichender Musikwissenschaft) in Hamburg einen Neuanfang im Geiste Guido Adlers versucht, andererseits bezeichnet er genau diese Laufbahn als Bruch, obwohl Husmann diesen Bruch vorgeblich gar nicht nötig gehabt hätte, und von Husmann auch keine Abrechnung mit der Vergangenheit (weder mit der eigenen, noch mit den Irrwegen der Disziplin) vorliegt. Es scheint eher so, als hätte Husmann nach 1945 erst richtig in seinem schon vorher latent vorhandenen, durch die Nazi-Diktatur gehemmten Geiste loslegen können. Womit keine Bewertung der Arbeiten Husmanns vor und nach 1945 vorgenommen sein soll, die vermutlich negativer ausfallen müsste, als Rothkamm ahnt. Im Falle der von Christina Richter-Ibánez gegebenen Darstellung der Verhältnisse in Tübingen bleiben die Gründe für die Entlassung von Ernst Fritz Schmid im Jahre 1937 im Dunkeln, sollen sie nicht mit einer verbotenen Aufführung von Mendelssohn zusammen hängen? Weitere gewichtige Fallstudien beschäftigen sich mit Hans Engel in Marburg (Rothkamm und Jonathan Schilling), Arnold Schmitz in Mainz (Rothkamm), Joseph Schmidt-Görg in Bonn (Anne-Marie Wurster und Rothkamm), Karl Michael Blessinger in München und Werner Korte in Münster (Michael Malkiewicz), Besseler in Jena (Schipperges) und der Kampagne gegen Günter Haußwald in der DDR (Kateryna Schöning).
Vereinzelt gibt es Andeutungen über Verhältnisse außerhalb der Universitäten, beispielsweise über die musikalischen Publikumszeitschriften, an denen auch Musikwissenschaftler mitgewirkt haben. Verwiesen wird aber nur auf Fachzeitschriften mit kurzen Ausblicken auf die (Neue) Zeitschrift für Musik und Melos. Gerade für die Zeit, in der die musikwissenschaftliche Disziplin noch nicht wieder reorganisiert war, also für die ersten Jahren nach 1945 gab es in München ein tendenziöses Blatt von Vertretern einer sog. gemäßigten Moderne, die Neue Musik-Zeitschrift, in der Artikel mehrerer der in diesem Buch genannten Personen veröffentlicht wurden, die weitere Aufschlüsse über deren wirkliche Gesinnung geben können.
Inhaltsverzeichnis
Peter Sühring
Berlin, 12.02.2016