Enquist, Anna: Kontrapunkt. Roman. Aus d. Niederländ. von Hanni Ehlers. München: Luchterhand, 2008. – 215 S.: Notenbeisp.
ISBN 978-3-630-87282-7 : € 17,95 (geb.)
btb, 2011: ISBN 978-3-442-73969-1 : € 9,99 (Pb. auch als E-Book)
„Aria.
Die Frau mit dem Bleistift las über den Tisch gebeugt in einer Taschenpartitur der Goldberg-Variationen. Der Bleistift war aus edlem, schwarzem Holz und hatte eine Kappe aus schwerem Silber,in der sich ein Anspitzer verbarg. Der Bleistift schwebte über einem leeren Heft. Neben der Partitur lagen Zigaretten und ein Feuerzeug. Und ein kompakter kleiner Metallaschenbecher stand auf dem Tisch […]
Die Frau hieß einfach nur ‚Frau‘, vielleicht auch ‚Mutter‘. Es gab Probleme mit der Benennung. Es gab viele Probleme. Im Bewusstsein der Frau waren es vorrangig Probleme mit der Erinnerung. Die Aria, die sie sich ansah, das Thema, zu dem Bach seine Goldberg-Variationen komponiert hatte, erinnerte die Frau an die Zeiten, da sie diese Musik studiert hatte. Als die Kinder klein waren. Davor. Danach. Ein Kind auf jedem Schenkel, und dann mit den Armen um die Kinderleiber herum versuchen, das Thema herauszubekommen.; […] Auf solche Erinnerungen war sie nicht aus. […]
Das musste jetzt nicht sein. Sie wollte ausschließlich an ihre Tochter denken. Die Tochter als Baby, als Mädchen, als junge Frau.“ (S. 5)
So beginnt der neue Roman der niederländischen Konzertpianistin und Psychoanalytikerin Anna Enquist, der stark autobiographische Züge trägt. Die Frau – sie wird ebenso wie alle anderen Protagonisten bis zum Ende des Romans keinen individuellen Namen tragen – studiert 30 Jahre nach ihrer Musikerausbildung noch einmal Bachs Goldberg-Variationen ein und erarbeitet sich damit allmählich die Erinnerung an ihre – wie wir zwar zu Beginn schon ahnen, jedoch am Schluß erst die Gewißheit erlangen – im Alter von 27 Jahren bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommene Tochter. Die 32 Kapitel des Romans entsprechen der Folge der Goldberg-Variationen, die Bezeichnungen der Variationen bilden zusammen mit den Notenincipits die Kapitelüberschriften. Während die Frau mit der Interpretation der einzelnen Sätze beschäftigt ist, versucht sie zum einen, sich in den Kontext ihrer Entstehung im Hause Bach hineinzuversetzen, zum anderen weckt das Zusammenspiel, das Aus- und Gegeneinanderlaufen der einzelnen Stimmen Erinnerungen an Szenen aus dem Leben (mit) der Tochter. Stück für Stück arbeitet sich die Frau durch die Aria und die 30 Variationen bis hin zur Wiederholung der Aria am Schluß, die nach den Hörerfahrungen jedoch nicht mehr dieselbe ist wie die zu Beginn.
„‚Komm mal‘ sagt sie zu ihrer Tochter. ‚Ich spiele etwas für Dich. Das habe ich ganz hart geübt. Hör zu.‘ Dann erblüht die Aria. Die Klänge aller dreißig Variationen vibrieren bei jedem Ton mit; das schlichte Lied zieht mühelos einen ganzen Troß von Erinnerungen hinter sich her. […] Die Tochter lehnt an ihrer Schulter. ‚Das ist unser Lied‘ sagt sie“ [wie bereits am Anfang]. „Jetzt spielt sie, jetzt und allzeit spielt die Frau die Aria für ihre Tochter.“
Ein berührendes Buch.
Jutta Lambrecht
zuerst veröffentlicht in FM 30, S. 163f