Bostridge, Ian: Schuberts Winterreise – Lieder von Liebe und Schmerz. / Aus d. Engl. übers. von Annabel Zettel. –München: C.H. Beck, 2015 – 404 S.Abb.
ISBN 978-3-406-68248-3: € 29,95 (geb.; auch als e-book)
Originaltitel: Schubert’s Winter Journey: Anatomy of an Obsession
Der gefeierte britische Tenor Ian Bostridge, Gast auf sämtlichen Konzertpodien und Bühnen der Welt, gilt als herausragender Interpret von Schuberts Liederzyklus Winterreise. Dass er nun ein annähernd vierhundert Seiten starkes Buch darüber geschrieben hat, weckt hohe Erwartungen. Vermutet man doch eine in die Tiefe gehende Analyse von Text und Musik dieses Werkes, das allgemein als Höhepunkt nicht nur von Schuberts Liedschaffen gilt. Leider bleibt uns diese der Autor komplett schuldig. Bostridge gliedert das Werk – dem Zyklus entsprechend – in 24 Kapitel. Schon bald stellt der Leser aber fest, dass dies die einzige strukturelle Komponente des Buches ist. Die Länge der einzelnen Kapitel schwankt zwischen drei und dreißig Seiten, was schon ein erstes Befremden auslöst. Der Autor scheint sich bis zum Ende des Manuskriptes nicht entschließen zu können, welche Art von Buch er eigentlich schreiben will. Schnell stolpert man im ersten Kapitel über etwas saloppe Formulierungen wie „Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass die Winterreise durchaus kein alter Hut ist“. Nun ja. Bedenklicher wird es schon, wenn im Kapitel Gefrorne Tränen die Aussage gemacht wird, dass Tränen, die aufgrund von Emotionen vergossen werden, 20 bis 25 Prozent mehr Proteine enthalten als jene, die beim Zwiebelschneiden vergossen werden. Trotz vieler lesenswerter Details rutscht der Autor immer wieder auf ein ähnliches Niveau. „Hetero-Sex ist nicht das, was wir sofort mit Schuberts Musik verbinden“ meint er uns im Kapitel Erstarrung unterstellen zu müssen. An gleicher Stelle stellt er die Behauptung auf, in Schuberts Die schöne Müllerin gäbe es kein einziges Lied, das tatsächlich als aufreizend oder sinnlich bezeichnet werden könnte. Das muss aus der Feder eines Autors, der auch diesen Zyklus oftmals interpretiert hat, mehr als befremdlich klingen.
Man muss bis zum sechsten Kapitel Wasserflut warten, bis sich der Autor etwas tiefer auf musikalische Details einlässt. Hier geschieht das aber gleich in einer Form, die den musikalischen Laien überfordern muss, so wird z.B. über Charakteristika der Schubert‘schen Notenhandschrift referiert. In krassem Gegensatz dazu stehen längere Passagen, in denen der Autor buchstäblich vom Hundertsten ins Tausendste kommt. Im Kapitel Rast beispielsweise nimmt er die Textzeile „In eines Köhlers engem Haus hab‘ Obdach ich gefunden“ zum Anlass, sich anhand einer Tabelle mit der historischen Entwicklung von Energiequellen im England der vergangenen Jahrhunderte zu beschäftigen. Bostridge scheint oft bewusst auf der Suche nach solchen Anknüpfungspunkten in den Müller’schen Texten zu sein, manchmal genügt ihm ein einziges Wort, um eine ganze Fülle unerheblicher Assoziationen zu erzeugen, die er leider auch alle zu Papier gebracht hat. So gesehen bleibt er sich bis in die letzten Kapitel treu. Der zentrale Teil des Kapitels Die Nebensonnen ist illustrierten Abhandlungen über das tatsächlich existierende physikalische Phänomen gewidmet. Fast möchte man meinen, der Autor hätte Angst vor dem Eintauchen in die emotionalen Tiefen des behandelten Werkes.
Vielleicht ist die deutsche Version dieses Buches aber auch ein Missverständnis. Der Grundton scheint ganz stark dem britischen Smalltalk geschuldet, der in dieser Form im Deutschen nicht unbedingt eine Entsprechung hat. Selbst wenn man die Winterreise nicht übermäßig bedeutungsschwer überfrachten will, bleibt Bostridge doch über weite Strecken erschreckend oberflächlich. Zudem enerviert der permanente Grundton oberlehrerhafter Geschwätzigkeit. Ein unnötiges, ja ärgerliches Buch.
Peter Sommeregger
Berlin, 21.12.2015