Handbuch Dirigenten. 250 Porträts / Hrsg. von Julian Caskel und Hartmut Hein. – Kassel u. Stuttgart: Bärenreiter u. Metzler, 2015. – 421 S.: 3 s/w-Abb.
ISBN 978-3-7618-2174-9 u. 978-3-476-02392-6 : 39,95 € (geb.)
Als ausschließlich nachschaffender Künstler mit eigenem interpretatorischen Anspruch hat sich der Dirigent erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert, erlangte aber als absolutistisch herrschender „Orchesterdompteur“ bald eine fast mythische Bewunderung: Arturo Toscanini oder Leonard Bernstein wurden frenetisch verehrt, und Karl Böhm oder Herbert von Karajan waren zu ihren Lebzeiten so unangreifbare Lichtgestalten, dass sogar ihre fragwürdige Rolle im „Dritten Reich“ kaum angesprochen werden konnte. Der Nimbus eines „Halbgottes“ ist inzwischen zwar weitgehend verschwunden, doch gehören Dirigenten immer noch zu den gesellschaftlich unangefochtenen Respektspersonen.
Selbst ein Handbuch mit 250 Personenartikeln zwingt aufgrund des langen Berichtsraumes von rund 150 Jahren zu einer Auswahl, der man folgende Kriterien zugrundegelegt hat: Die diskografische Präsenz (soweit Tonaufzeichnungen schon vorliegen), eine ungewöhnliche Biografie, Eigentümlichkeiten des Repertoires sowie die Bedeutung eines Interpreten „im Kontext lokaler und zeitgebundener Aufführungskulturen“. Eine subjektive Zusammenstellung ist gleichwohl unvermeidlich; die Frage, warum jener Name auftaucht, ein anderer aber ausgeschlossen bleibt, erscheint deshalb müßig und ist doch einige Male unerlässlich: Mit Hans von Bülow oder Hermann Levi sind die ersten Vertreter des neuen Berufsstandes berücksichtigt, doch vermisst man in der Folge etwa Gustav Mahler, der in seiner Zeit primär als Dirigent wahrgenommen worden ist und zu den epochalen Persönlichkeiten seiner Zunft gehört, oder die Schalk-Brüder, Ferdinand Leitner und Horst Stein. Dafür finden sich erfreulich zahlreiche Beiträge über gegenwärtig tätige Musiker und über bemerkenswert viele Dirigentinnen, unter denen nicht nur ein paar handverlesene „Alibidamen“ sind. Gerade weil Frauen von dieser Männerdomaine lange völlig ausgeschlossen waren und deren Auftritte auch noch heute für Aufsehen sorgen, hätte man darauf im Rahmen der vorangestellten Kapitel über die Geschichte des Berufsstandes und seines Selbstverständnisses gesondert eingehen müssen.
Die Artikel gliedern sich in einen tabellarischen Lebenslauf, dem ein kurzer Essay zum Leben und den persönlichen Eigenheiten folgt. Hier geht es auch um interpretatorische Charakterisierungen und stilistische Merkmale, und weil dies stets schwer in Worte zu fassen ist, überzeugt die künstlerische Würdigung nicht immer. Angehängt sind dann verschiedene Auswahllisten zur Diskografie, Bildmedien, eigenen Werken (Kompositionen und Schriften), Sekundärliteratur und Links im Internet („Web-Präsenz“), die sehr unterschiedlich ausfallen (mehrfach vermisst man zum Beispiel Angaben über die schöpferischen Tätigkeiten). Die immer wünschenswerten Register fehlen im Buch, können aber über die Homepage des Verlags abgerufen werden (darunter aber kein Generalregister!) – man muss also dafür das Medium wechseln; eine gedruckte Version wäre bequemer gewesen, für die hätte man sogar eine unbedeutende Verteuerung in Kauf genommen.
Georg Günther
Stuttgart, 22.11.2015