Kehrmann, Boris: Vom Expressionismus zum verordneten „Realistischen Musiktheater“ – Walter Felsenstein. Eine dokumentarische Biographie 1901 bis 1951. – 2 Bde.– Marburg: Tectum, 2015. – 1.372 S. (Dresdner Schriften zur Musik ; 3)
ISBN 978-3-8288-3266-4 : € 79,95 (geb.)
Die Person und das Werk des Regisseurs Walter Felsenstein sind bis heute von unzähligen Mythen und höchst unterschiedlichen Einschätzungen geprägt. Das mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass Felsenstein mit der Komischen Oper im Ostteil Berlinseine der großen Bühnen der noch jungen DDR mit begründet und bis zu seinem Tod 1975 geleitet hat. So war sein Wirken zu jeder Zeit auch politisch relevant und dem entsprechend auch umstritten.
Der Musikwissenschaftler Boris Kehrmann legt nun eine geradezu monumentale, zweibändige Biographie als Dissertation vor, die laut Titel das letzte Drittel der Vita des Porträtierten nicht berücksichtigt. Dies irritiert, wird doch in dem Buch die Chronologie bis zu Felsensteins Tod 1975 fortgesetzt, allerdings eher mit dem Focus auf seine Korrespondenzen.
Beeindruckend ist die Akribie, mit der der Autor selbst entlegenste Quellen aufgespürt und ausgewertet hat, Zeitzeugen befragte, und bisher unbekanntes Material zugänglich macht.
Der gebürtige Österreicher Felsenstein kann zu Recht als Grenzgänger zwischen Ost und West bezeichnet werden. Der in Wien als Sohn eines höheren Beamten noch zur Zeit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie Geborene war von seiner Familie eigentlich zum Studium der Technik vorgesehen, aber sein Drang zum Theater setzte sich schließlich durch, und er ließ sich zum Schauspieler ausbilden. Lübeck, Mannheim und Beuthen waren erste Stationen, in Basel und Freiburg im Breisgau kam es zu ersten Berührungen mit dem zeitgenössischen Musiktheater. Aus dem Schauspieler Felsenstein entwickelte sich allmählich der Regisseur. Nach Regiearbeiten in Köln und Frankfurt am Main schloss ihn die Reichstheaterkammer wegen seiner Ehe mit Ellen Neumann, einer „Nicht-Arierin“ aus. Es folgten unruhige Jahre, in denen Felsenstein versuchte, seine prekäre familiäre Situation in den Griff zu bekommen, was ihm nicht gelang. Nicht zuletzt durch die permanente Bedrohung, der Felsensteins Ehefrau ausgesetzt war, zerbrach die Ehe. Die hier erstmals veröffentlichten Briefe Felsensteins an seine erste Frau geben davon Zeugnis und dienen dem Autor gleichsam als roter Faden, der sich durch die gesamte Publikation zieht. Kehrmann stand das private Archiv des ältesten Felsenstein-Sohnes Peter Brenner zur Verfügung, und damit auch der direkte Blick auf den Privatmann Felsenstein. Vom Volumen her dominieren die Texte der Briefe streckenweise, sie spiegeln aber über das Privaten hinaus auch immer ein Bild der Zeit und der komplizierten Lebensumstände des Ehepaares wider. Insgesamt gelingt dem Autor die Verbindung der Dokumente mit dem eigenen Text ausgezeichnet, das Buch ist in Anbetracht seiner Gewichtigkeit erfreulich gut lesbar. Das zuweilen fast schon ausufernde Material ist wohl der Tatsache geschuldet, dass es sich um eine Dissertation handelt.
Kehrmanns These, Felsenstein sei von den DDR-Behörden stilistisch in einen sozialistischen Realismus gezwungen worden, erscheint allerdings fragwürdig, war Felsenstein doch nicht der Mann, der sich zwingen oder gar einverleiben ließ.
Am Ende stolpert man über eine Aussage: in der DDR „gab es einen Felsenstein vor der Komischen Oper nicht.“(S. 1.233). In einer von Felsensteins Meisterschüler Götz Friedrich herausgegebenen und ab1961 in der DDR in mehreren Auflagen publizierten Monographie wird auf den Werdegang des Regisseurs, seine Vorkriegs- und westdeutschen Tätigkeiten ausführlich hingewiesen. Es befremdet, dieses Buch nicht in Kehrmanns umfangreicher Literaturliste zu finden.
Inhaltsverzeichnis
Peter Sommeregger
Berlin, 18.10.2015