Gould, Elaine: Hals über Kopf. Das Handbuch des Notensatzes / Aus d. Engl. von Arne Muus und Jens Berger – [Leipzig]: Ed. Peters; London: Faber Music, 2014 – 762 S.: Notenbeisp.
ISBN 978-1-84367-048-3 : € 89,00 (geb.); nur über den Verlag lieferbar)
„ … Ich begrüße dieses Buch nicht nur uneingeschränkt, sondern würde mir auch erhoffen, dass es das A und O des Notensatzes im 21. Jahrhundert wird. Niemand sonst hätte etwas Besseres vorlegen können, und es wird Musikern auf Jahrzehnte hinaus als Maßstab dienen.“
Dies von Sir Simon Rattle verfasste Geleitwort zur englischen Originalausgabe von 2011 (Originaltitel Behind Bars – The Definitive Guide to Musical Notation) ist ein mächtiger Ritterschlag und schürt zugleich immense Erwartungen an die Ehrfurcht einflößenden 762 Buchseiten über ein doch eher sperriges Thema.
Die zuletzt schon vor einigen Jahrzehnten erschienenen, ausführlicheren Publikationen zum Notensatz, wie etwa Kurt Stones Music Notation in the Twentieth Century von 1980, waren noch an der Handschrift bzw. am professionellen Notenstich orientiert. Nachdem seit etwa zwanzig Jahren immer professionellere Notensatzsoftware entwickelt worden war, schien ein aktualisiertes Hand- und Lehrbuch zu dem Thema immer weniger notwendig. Scheinbar sorgt die Software dank ausgeklügelter Algorithmen von allein für einen perfekten Notensatz, worauf sich der User allzu gern verlassen möchte. Die Praxis zeigt jedoch das Gegenteil: Je häufiger am eigenen Rechner Partituren gesetzt werden, desto größer auch die Zahl ungelenker, unästhetischer oder gar aufführungspraktisch katastrophaler Ergebnisse. Denn selbst wenn mittlerweile die Programme ein oftmals schon recht brauchbares Layout produzieren, sind fundamentale Kenntnisse in Notensatz und v. a. auch in Spiel- und Aufführungspraxis unerlässlich, um mit menschlicher Feinjustierung korrigierend dort einzugreifen, wo der Automatismus versagt.
Den Mangel an Literatur zum Thema haben mittlerweile auch die Softwarehersteller erkannt und reichern ihre in früheren Zeiten oftmals sehr trockenen, ausschließlich Funktionen beschreibenden Handbücher mit Fach- und Hintergrundwissen zum Notensatz an und beantworten rudimentäre Fragen zu stilvollem Layout, so beispielsweise im Handbuch zur Software SIBELIUS in der aktuellen Version 7.5.
Daher erscheint Elaine Goulds allen Erwartungen mehr als gerecht werdendes Kompendium zu einem längst überfälligen Zeitpunkt. Aus ihrer jahrzehntelangen Erfahrung als Cheflektorin beim Verlag Faber entstand ein beeindruckend umfangreiches und gleichermaßen leicht zu handhabendes Nachschlagewerk für die Praxis. Es geht Gould immer um eine möglichst klare, eindeutige Notengrafik, die pragmatisch, ästhetisch ansprechend und nie Selbstzweck sein soll, um musikalische Sachverhalte frei von Missverständnissen zu kommunizieren. Immer steht das flüssig lesbare Gesamtbild im Vordergrund, um Sängern und Instrumentalisten einen ungehinderten Blick auf das Wesentliche – die Musik – zu ermöglichen.
Pragmatisch und vorbildlich sind sowohl die visuelle Gestaltung als auch die strukturelle Gliederung, die den suchenden Leser durch schlüssige Querverweise schnell zum Ziel finden lassen, ebenso aber auch den neugierig stöbernden Querleser am Thema zu fesseln vermögen.
Im ersten von drei Teilen stellt Elaine Gould die Grundlagen des allgemeinen Notensatzes systematisch, übersichtlich und gleichzeitig bis ins kleinste Detail ausführlich dar. Jeder noch so kleine Sonderfall wird behandelt. Dass allein die Verwendung und korrekte Notation von Versetzungzeichen sechzehn Seiten in Anspruch nimmt, mag als Beispiel für die Akribie, mit der sich die Autorin des Themas annimmt, genügen. Eine Fülle selbst verfasster, vergleichender Beispiele zeigt einleuchtend, wie man es macht, aber auch, wie man es besser nicht macht, und trägt maßgeblich zum schnellen Verständnis der Regeln bei.
Im zweiten Teil über Spezielle Notationsformen stellt Elaine Gould etablierte instrumenten- bzw. singstimmenspezifische Notationsformen vor und behandelt dabei sowohl traditionelle als auch ausgewählte erweiterte Spiel- und Gesangstechniken. Um die Verwendung der entsprechenden Zeichen verständlich zu erläutern, beschreibt sie dabei auch die Spieltechnik bzw. Aktion als solche und bewegt sich dadurch weit auf das Terrain der Instrumentationslehrbücher. Hier eine Abgrenzung vorzunehmen erscheint jedoch schwer möglich; der interessierte Leser wird entweder bereits fundierte Kenntnisse in Instrumentations- und Instrumentenkunde haben oder sich von Goulds Darstellungen zur vertieften Beschäftigung mit Sekundärliteratur oder der Entwicklung eigener Zeichen anregen lassen.
Der dritte Teil behandelt ausführlich Seitenanlage und Gestaltung und schlägt die entscheidende Brücke zum spezifischen Drucklayout und -format von Notenmaterial – eine Pioniertat! In umfangreichen fünf Kapiteln stellt die Autorin klar, dass bei jeglicher Verschriftlichung von Musik immer die klangliche Realisation durch die ausführenden Musiker im Mittelpunkt stehen sollte. Komponisten und Notensetzer sollten sich daher stets darüber im Klaren sein, wer die Noten bekommt: beispielsweise ein Dirigent, ein Solist, ein Tuttistreicher oder ein Orchesterschlagzeuger, und dem entsprechend sich in die Sicht des Musikers hinein finden. Hierzu werden sehr wertvolle und praktische Tipps zu allen Fragen des Layouts von Partituren, Orchesterstimmen, Klavierauszügen, Chormaterial usw. gegeben und dabei auch die besonderen Erfordernisse bei der Notation elektroakustischer Musik und metrisch nicht notierbarer, flexibler musikalischer Verläufe berücksichtigt. Die beiden Letzteren stellen einen wohltuenden Blick über den Tellerrand der vielleicht ein wenig zu etabliert-gemäßigten, zeitgenössischen Musik für konventionelle Besetzungen dar, welche im Mittelpunkt dieses Handbuchs steht. Vielleicht hängt dies mit einem nach wie vor in Großbritannien stark verbreiteten Traditionsbewusstsein auch innerhalb der aktuellen Kunstmusik zusammen. Darüber kann man leicht hinweg sehen, wobei möglicherweise die Gefahr besteht, dass Nachwuchskomponisten sich nach der Lektüre von den dargestellten Regeln und Gebräuchen im Sinne eines „mehr geht nicht“ in ihrer Kreativität limitieren lassen könnten oder sich schlichtweg in ihrem Musikverständnis nicht angesprochen und „abgeholt“ fühlen. Leider geht Elaine Gould in keinster Weise auf die besonderen Notationsanforderungen und Konventionen im Jazz und bei populären Musikstilen ein. Dies erscheint gerade vor dem Hintergrund der akribischen Detailfülle dieses Buchs als unverständliche Schwäche. Wünschenswert wären im Zuge einer späteren Neuauflage einige Ergänzungskapitel, um dem enzyklopädischen Charakter vollends gerecht werden zu können.
Für Komponisten, Arrangeure, Notenkopisten, Musikverlage, Programmierer von Notationssoftware, aber auch für Musiker, die sich einen Gesamtüberblick über alle Arten und Möglichkeiten von Musiknotation verschaffen möchten, stellt Elaine Goulds Handbuch ein nicht gerade erschwingliches, aber äußerst wertvolles, leicht lesbares Kompendium dar, welches wahrscheinlich nur wenige Spezialisten in seiner gesamten Informationsdichte vollends ausschöpfen können.
Timo Ruttkamp
Köln, 17.02.2015