Schenk, Stefan: Das Siemens-Studio für elektronische Musik. Geschichte, Technik und kompositorische Avantgarde um 1960. – Tutzing: Hans Schneider, 2014. – 271 S.: 50 s/w-Abb. (Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte ; 72)
ISBN 978-3-86296-064-4 : € 48,00 (geb.)
Diese Rezension soll nicht beginnen ohne ein Lob an Herrn Norbert Klotz in 89343 Jettingen-Scheppach. Jenem Buchbinder und den Personen, die (eventuell gemeinsam mit ihm) für die äußere Gestaltung des Buches verantwortlich zeichnen, ist es zu verdanken, dass dem Rezensenten beim Öffnen der Versand-Verpackung ein Ruf des positiven Erstaunens entfuhr. Das Buch erinnert von der Aufmachung her in seiner edlen Schlichtheit an Klassiker des Genres, wie z.B. Fritz Winckels Phänomene des musikalischen Hörens. Es ist eine Freude Stefan Schenks Buch zum Lesen in die Hand zu nehmen.
Aber dann geht´s los: bei Anmerkung Nr. 3 auf Seite 10 ist die Seitenzahl im Verweis zu groß geraten und falsch umbrochen. Zudem endet der Haupttext unten mit einer Worttrennung, die dazu führt, dass Seite 11 mit der zweiten Hälfte des Wortes beginnt. Beim Übergang von Seite 11 zu 12 findet sich die gleiche Nachlässigkeit in der Ordnung des Satzspiegels, wie auch mehrfach im weiteren Verlauf des Buches. Herr Klotz, bitte fordern sie zukünftig vor dem Buchbinden diesbezüglich Korrekturen!
Im Vergleich zum berühmteren Elektronischen Studio des (N)WDR in Köln war die Informationslage zum Münchner Siemens-Studio bislang dünn. Stefan Schenk ändert dies mit seiner Publikation in dankenswertester Weise. Typographische Nachlässigkeiten nimmt man gern in Kauf, wenn der Inhalt begeistern kann, und das ist hier der Fall.
Das Kölner Studio wurde 1951 gegründet, das Studio im Siemenshaus München laut Mitteilung des Konzerns im Frühjahr 1960, während seine Wurzeln im Betrieb des „Labors 345“ in Gauting verortet sind, das bereits 1956 seine Arbeit aufnahm (S. 43).
Der ehemalige künstlerische Leiter des Siemens-Studios, Josef Anton Riedl, hatte 1954 das Kölner Studio besucht, dessen Betrieb in engster Weise mit der Person von Karlheinz Stockhausen verbunden ist. Das Interesse von Stockhausen, dessen Name geradezu als Synonym für die Avantgarde der Neuen Musik im 20. Jahrhundert steht, war nicht sehr ausgeprägt, was die Aktivitäten der Münchner Klangforscher betraf. In der Stockhausen-Biografie von Michael Kurtz sucht man den Namen Josef Anton Riedl im Namensregister vergeblich. All das mag ein Grund dafür sein, dass das Münchner Studio bislang in der öffentlichen Wahrnehmung eine untergeordnete Rolle spielte.
Stefan Schenk könnte es mit seinem Buch ändern: er gibt eine umfassende und detaillierte Darstellung zum historischen Vor- und Umfeld, zur Geschichte der Entstehung, zur Technik des Studios und zu den dort entstandenen Kompositionen. Ergänzt wird dies in sinnvoller Weise durch den Dokumentenanhang (S. 240 ff.) mit einer Inventarliste von 1959 und einer Besucherliste (Stand Ende 1962). Immerhin war auch Stockhausen mal zu Besuch …
Eine Besonderheit des Münchner Studios lag in den Möglichkeiten einer Automatisierung von Abläufen bei der Klangerzeugung (S. 122 ff.: „Automatik“). Das wurde durch den Einsatz einer Steuerung durch Lochstreifen erzielt, in einer Form, die sich von der vom Autor im Vergleich vorgestellten Lochstreifensteuerung des Synthesizers der RCA (Radio Corporation of America) unterschied (S. 36). Stefan Schenk schreibt ebenda, dass die Amerikaner und die Münchner mit ihren Studios „als ernst zu nehmende Vorläufer der heutigen, mit Computerprogrammen realisierten Sequenzertechnik zu gelten haben“.
In diesem Zusammenhang hätte sich der Rezensent allerdings eine Erwähnung des Instituts für Sonologie in Utrecht gewünscht. Dessen künstlerischer Leiter, der in Schenks Buch noch zwei Seiten vorher genannte Gottfried Michael Koenig, benutzte ab Mitte der 1960er Jahre für seine Kompositionen den von Stan Tempelaars um 1964 realisierten „variablen Funktionsgenerator“ als Sequenzer. Es wäre interessant zu erfahren, ob es bezüglich der Automatisierung von Abläufen im elektronischen Studio einen Gedankenaustausch zwischen Josef Anton Riedl und Gottfried Michael Koenig gab, dessen Name sich ebenfalls in der Besucherliste des Münchner Siemens-Studios findet.
In der filmischen Dokumentation Elektronische Musik, einem in vier Teilen gesendeten Dokumentarfilm des NDR von 1967 sind Josef Anton Riedl bei der „Lochstreifenherstellung am halbautomatischen Lochstreifengerät“ (Teil 1) und Gottfried Michael Koenig beim „Einstellen des variablen Funktionsgenerators“ (Teil 3) vereint.
In jener filmischen Dokumentation sieht man in Folge 1 auch die Filterbank der „Hohnerola“ im Siemens-Studio in Betrieb. In Kapitel 4.2 widmet Stefan Schenk diesem umgebauten „Zungeninstrument“ ab S. 88 eine nähere Betrachtung. Da über dieses wichtige Gerät des Siemens-Studios bislang kaum Erkenntnisse vorlagen (bis auf einige wenige Informationen von Fred K. Prieberg in seinem Buch musica ex machina), muss man dem Autor auch dafür dankbar sein. Die ostdeutschen Erfinder des Instrumentes „Subharchord“ übernahmen die Charakteristik und Technik der „Mel“-Filterbank der Hohnerola, so dass die im Ostberliner Studio in der Mitte der 1960er Jahre damit realisierten Kompositionen oft frappierend ähnlich klingen wie das im Münchner Studio entstandene Werk Wayfaring Sounds von Herbert Brün aus dem Jahr 1961. Dies steht jedoch nicht in Stefan Schenks Buch, es hätte das Thema möglicherweise zu sehr erweitert. Immerhin wird auf Herbert Brüns Wayfaring Sounds im Kapitel, das der Analyse der Kompositionen des Siemens-Studios gewidmet ist, (S. 135 ff.) detailliert eingegangen (S. 143-160). Zur Visualisierung werden in diesem Kapitel Spektrogramme herangezogen, die begleitenden Erläuterungen unterstützen das Verständnis der Grafiken maßgeblich.
Hinsichtlich der Studiogeschichte bildet die Endphase „Das Studio an der HfG Ulm“ (S. 67 ff.) einen spannenden (man könnte auch sagen „spannungsgesteuerten“) Schlussakkord. Das Studio ging im September 1963 als Schenkung an die Geschwister-Scholl-Stiftung über (als Trägerin der Hochschule), die international als Nachfolgeorganisation der berühmten Hochschule für Gestaltung BAUHAUS gilt. Der Transport von Studio-Inventar nach Ulm erfolgte 1966. Im September 1968 wird die HfG geschlossen, unter maßgeblichem Betreiben des damaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, einem Altnazi, der damit an finstere Traditionen anknüpfte: auch dem fortschrittlichen BAUHAUS wurde durch die Nazis ein Ende bereitet.
Die Entwicklung der elektronischen Musik in Deutschland ist stark verknüpft mit dem politischen Wandel des Landes. Was in den 1930er- und 1940er Jahren erst vereinnahmt werden sollte und später als entartet galt, was im Rahmen eines angenommenen Bildungsauftrages nach dem zweiten Weltkrieg in den 1950er Jahren gefördert wurde und Ende der 1960er Jahre zunehmend als elitär und suspekt galt, und was schließlich in der nachfolgenden Expansion der Medien einerseits im Nischendasein und andererseits im Pop landete, spiegelt nicht nur den Zeitgeist und die unterschiedlichsten (auch oft zeitlosen) subjektiven Musikbegriffe, sondern auch den Stellenwert von Kultur in unserer Gesellschaft.
Stefan Schenks Buch ist so betrachtet nicht nur ein Buch für Enthusiasten und Fachleute mit und ohne Doktortitel, sondern auch eine sehr empfehlenswerte und spannende Lektüre für Menschen, deren Kulturverständnis weiter gefasst und quotenunabhängig ist.
Nicht nur dem Autor (und dem Buchbinder), sondern auch dem Verlag ist für diese Publikation ausdrücklich zu danken.
Manfred Miersch
Berlin, 04.02.2015