Kramarz, Volkmar: Warum Hits Hits werden. Erfolgsfaktoren der Popmusik. Eine Untersuchung erfolgreicher Songs und exemplarischer Eigenproduktionen. – Bielefeld: transcript, 2014. – 390 S.: zahlr. Notenbeisp., Tab., Abb. (Studien zur Popularmusik)
ISBN 978-3-8376-2723-7 : € 37,99 (Softcover; auch als e-book)
Dem großen Paul McCartney wird folgende Legende zugesprochen: Einst forderte Dustin Hoffman den Sänger auf, ad hoc einen Song über ein beliebiges Thema zu schreiben. McCartney griff zur Gitarre, Hoffman zur nächstbesten Schlagzeile. Wenige Minuten später war Picasso’s Last Words (Drink to Me), fertig, eine Hommage an den kürzlich verstorbenen Maler. Das Lied erreichte zwar nicht die Chartspitze, gelangte aber immerhin auf die Meisterplatte Band on the Run. Soviel ist sicher: Wer ein gelungenes Lied schneller komponiert als er zum Lesen des Klappentextes des vorliegenden Buches benötigte, wird Volkmar Kramarz’ Untersuchung nicht benötigen. Die übrigen 99,99 Prozent aller Popmusikschaffenden vielleicht schon. Der potentielle Leserkreis wäre hiermit schon einmal abgesteckt.
Warum aber werden Hits nun Hits? Die Antwort weiß Volkmar Kramarz und er stützt sich dabei auf eine mehrere Jahrzehnte währende Lern- und Lehrtätigkeit, praktische Erfahrungen als Gitarrist und Print-, Online- und Funk-Journalist sowie auf ein breites publizistisches Schaffen (Die Pop Formeln, 2006; Harmonieanalyse der Rockmusik, 1983; zahlr. Songbooks). In der vorliegenden Veröffentlichung hat sich der Musikwissenschaftler Kramarz auf Grundlage eines streng empirischen Ansatzes mit der Analyse von rund 30 kommerziell erfolgreichen Popsongs aus den Jahren 2007 bis 2014 beschäftigt. Nach einem einleitenden, Grundlagen klärenden Kapitel zu Begriffen wie „Erfolg“ und „Popmusik“, fächert Kramarz die Kategorien und Parameter seiner Analyse auf: Struktur, Harmonik, Melodik, Rhythmik, Arrangement, nicht-musikalische Elemente und Text. Der übergreifende Blick wird im dritten Teil auf die Testgruppe der 30 Hits eingeengt. Legen die Auswertungen schon etliche Tendenzen nahe (bspw. Länge eines Songs, Bevorzugung von Dur-/Moll-Melodik sowie standardisierte Harmoniefolgen), so unterfüttert Kramarz diese Ergebnisse, indem er anhand eigens produzierter Musterstücke die Hirntätigkeit beim Hören unterschiedlicher Musik untersucht.
Der Aufwand ist beträchtlich und lohnend. Kramarz‘ Auswertungen sind transparent und nachvollziehbar, vor allem auch, weil alle Songbeispiele online gelistet sind (www.volkmarkramarz.de). Und doch stellt sich die Frage, ob die Untersuchung dem Anspruch gerecht wird, eine Hitformel zu finden. Da wäre zum einen die Beweisführung bei der Erstellung der Hypothesen zu nennen. Der Autor führt zu einzelnen Punkten zahlreiche Belege an, die in ihrer Qualität jedoch schwankend sind. So ist keine einheitliche Linie in der Auswertung bisheriger Forschung zu erkennen, die Auswahl älterer und neuerer Publikationen wirkt bisweilen beliebig. Auch der Rückgriff auf nicht-wissenschaftliche Quellen ist problematisch. So ist es beispielsweise nicht zwingend, als Beleg für den Ambitus von Popsängern eine anonym veröffentlichte Usermeinung aus einem Michael-Jackson-Fanblog zu verwenden. Ein Fokus auf relevante Quellen wäre zielführender gewesen. Doch ist letztendlich auch die Methodik der strengen Empirie zu hinterfragen. Selbstverständlich hat jedes Lied musikimmanente Parameter. Diese zu untersuchen ist die natürliche Aufgabe eines Musikwissenschaftlers. Als Erklärung für den kommerziellen oder künstlerischen Erfolg eines Stückes reicht das aber nicht aus. Jeder Hit braucht weitere für den Erfolg entscheidende Bezugspunkte: Interpretation, gesellschaftliche Relevanz, Text, Coverversionen, außermusikalische Ereignisse, mediale Verwertung, stilistische Nähe oder Distanz zu früheren Hits, Jahreszeit etc.. So ist die Bedeutung von Kid Rocks All Summer Long (einer der untersuchten Songs) ohne geschickte Verknüpfung des klassischen „Sommerhit“-Themas mit der musikalischen Wiederverwertung zweier älterer und erfolgreicher Songs von Lynyrd Skynyrd und Warren Zevon ebenso wenig denkbar wie der Durchbruch von Lena Meyer-Landruts Satellite ohne die Anschubfinanzierung durch Stefan Raabs Marketinggenie.
Dass Volkmar Kramarz ein Gespür für die über die erwartbaren Parameter hinausgehenden Bestandteile hat, ist unbestritten. Mit seinem wiederholten Hinweis auf den „Prägestempel“ eines Songs, auf Merkmale also, die einen Song über das Formelhafte hinaustragen, hat er dieses Terrain mehrfach betreten. Eine Fortführung seiner Untersuchung in diese Richtung würde dann wohl auch von Paul McCartney verschlungen werden.
Michael Stapper
München, 17.02.2015