Haydns Nachhaltigkeit.
Kultur und Natur im Anthropozän. Ein öffentliches Symposium und eine Aufführung von Haydns Die Schöpfung, Potsdam/Berlin, 6.‑8.02. 2015
Der Mensch erschien bekanntlich im Holozän, also nach Millionen Jahren der Erdgeschichte, richtig aufdringlich und dominant wurde er aber erst um 1800 nach Chr. (nicht zufällig beim Beginn der Industrialisierung), weswegen wir seitdem in einem Anthropozän leben, so die von fast niemandem angezweifelte These. Der von Baron van Swieten in ein Oratoriumslibretto verwandelte und von Joseph Haydn vertonte Schöpfungsbericht der hebräischen Bibel sieht das etwas anders: da war dem Menschen die Herrschaft über die Erde schon von Anfang an aufgetragen worden; van Swieten lässt es Gottes Erzengel Uriel zum ersten Menschenpaar nochmal ganz deutlich sagen: „Ihr seid die Krönung der Schöpfung, alle Lebewesen sollen Euch gehorchen.“ Wir mögen das heute als eine spätzeitliche religiöse Rückprojektion des Herrschaftsanspruchs des Menschen über den Rest der Natur verstehen, seine Legitimation dadurch, dass man ihn in einen göttlichen Willen vor aller irdischen Zeit verwandelt. Wie aber nun mit diesem Schöpfungsgedanken, dem biblischen Genesis-Text, der Dichtung van Swietens und mit Haydns dazu komponierter Musik heute umgehen? – heute, wo die kulturelle Dominanz des Menschengeschlechts auf dem Erdball dazu geführt hat, dass die Natur und alle natürlichen Komponenten im Menschen stark beschädigt und vor allem in ihrer Nachhaltigkeit („sustainability“) beeinträchtigt sind?
Ohne Haydns nachhaltig wirksames Oratorium hätten sich die Mitglieder des Potsdamer Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) mit ihrem Direktor Klaus Töpfer auch unter sich bleibend darüber austauschen können. Hoch anzurechnen ist ihnen aber, dass sie sich zur Klärung dieser Frage mit der Berliner Universität der Künste (UdK) zusammentaten und zwar mit einem dort angesiedelten musikpädagogischen Projekt, das bis in Berliner Schulen hinein wirkte und bewerkstelligte, dass nicht nur Unterrichtseinheiten zu diesem Thema anhand von Haydns Oratorium entstanden, sondern auch einige der vielen Schülerinnen und Schüler bei einer Aufführung von Haydns Werk innerhalb des „Jungen Ensembles Berlin“ mitsangen. Partner waren hier die Professorinnen Rebekka Hüttmann und Christine Siegert sowie Frank Markowitsch als Dozent für Chorgesang, der schon seit längerem nicht nur ein elitäres Chorprojekt leitet, sondern sich auch nachhaltig um das Wecken schlummernder Musikbegeisterung bei Berliner Jugendlichen kümmert.
Konferenzen (wie auch Konzerte) mit modischem „Design“ sind Geschmackssache, bei dem Anthropozän-Symposium im Potsdamer Institut am 7. Februar ging es recht gut; die Arrangements für die Teilnehmer waren recht fruchtbar, weil „Impulsreferate“, „Gesprächsinseln“ und abschließender „Fishbowl“ mit zwei ständig wechselnd zu besetzenden freien Stühlen im Innern des intellektuellen Haifischbeckens die Diskussion wirklich animierten, und der Saal sich zeitweilig quasi in ein gedanklich hochfliegendes Klassenzimmer verwandelte.
Schwierig ist es, aus der Fülle der diskutierten An- und Einsichten das Markanteste oder am ehesten für alle Verbindliche heraus zu fischen. Was die Thematik Kultur und Natur im Anthropozän, neben den allgemeineren Fragen der Naturwahrnehmung speziell für die Rolle der Musik um 1800 hergibt, wurde von den Professoren Hartmut Fladt (UdK) und Christian Kaden (HU-Emeritus) erörtert. Unüberhörbar trat auch die Musik zum Beginn des Anthropozäns in eine neue Phase des gesteigerten menschlichen Selbstbewusstseins, entwickelte die autonome Instrumentalmusik, deren eigentlicher Begründer Haydn war, neue Wege und Regeln der selbstermächtigen Originalität und Erhabenheit bis hin zur musikalischen Kunst als einer Art zweiter Natur mit eigenen Mustern, die denen der als edel und einfältig aufgefassten Natur verwandt sein wollten. Musik war dem neuen Menschen des beginnenden bürgerlichen Zeitalters aber nur ein Rahmen für seine Empfindungen, die er allegorisch abbilden konnte, insofern hält sich Haydn mit direkter und programmatischer Tonmalerei noch zurück. Das von Haydn in strahlendem C-Dur gefeierte Licht allerdings empfinden wir heute durch seine künstliche Vermehrung ins Schrankenlose, so dass jegliche Finsternis (besonders die natürliche Nacht in den Städten) abgeschafft ist, eher als bedrohlich und einschränkend; während Haydns Schilderung der Artenvielfalt durch variante musikalische Figuren uns durchaus positiv berührt.
Nachdem das Werk am Abend des letzten Tages nach einer beglückenden Aufführung zum zweiten Mal verklungen war (eine erste Aufführung hatte vor dem Konferenztag in der Gethsemanekirche stattgefunden), dachte man sich: mit wie viel, nicht erst uns Heutigen naiv verkommendem Optimismus man damals (zumindest Haydn und sein Librettist) noch die Schöpfung und das „mehret euch und wachst“ feiern konnte! Allerdings hatte schon ein damaliger Zeitgenosse – nein, nicht erst Schopenhauer, sondern schon Friedrich Heinrich Jacobi – den Optimismus einen verruchten genannt, ohne etwas von sieben Milliarden, in Wohlstand leben wollenden Menschen auf dem Erdball, von deren Verschwendung und Armut, zu wissen. Oder feierte der Bürger Haydn gar nicht die Schöpfung, sondern vielmehr „eine neue Welt“ – seine neue Welt, die eines gerade aufgestandenen Bürgertums, jenes Menschentums, das sich nun endgültig anschickte, sich die Erde untertan zu machen ‑ feierte also die Schöpfung und meinte das Anthropozän? Aus heutiger Sicht kein Grund zum Feiern.
Peter Sühring
Berlin, 09.02.2015