Geck, Martin: Matthias Claudius. Biographie eines Unzeitgemäßen. – München: Siedler, 2014. – 320 S.: Ill. (s/w)
ISBN 978-3-88680-986-8 : € 24,99 (geb.)
Als mich die Anfrage zu einer Rezension dieses Buches erreichte sagte ich spontan zu. Der Musikwissenschaftler Martin Geck und der Dichter Matthias Claudius – diese Kombination versprach genussreiche Lektüre mit interessanten Einsichten aus ungewöhnlichen Blickwinkeln, weil interdisziplinärem Ansatz, und das auf gewohnt hohem Niveau. Ein weiterer Grund war, dass meine Sozialisation in Kindergarten, -gottesdienst und Grundschule wesentlich durch gemeinsames Singen geprägt war und das Claudius-Lied Der Mond ist aufgegangen dabei eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Gleichzeitig verbinde ich bis heute Matthias Claudius assoziativ mit dem Kirchenlieddichter Paul Gerhardt, dessen Lied Nun ruhen alle Wälder, besonders die letzte Strophe Breit aus die Flügel beide, ebenfalls viel gesungen wurde. Als Kind war mir aufgefallen, dass beide Texte – wiewohl aus ganz unterschiedlichen Epochen – jeweils auf die Melodie des anderen Liedes gesungen werden können, ohne dass ich mir über den Grund besondere Gedanken gemacht hätte.Martin Geck geht in seinem großartigen und gleichzeitig sehr berührenden Vorwort auf diesen offensichtlichen Gleichklang ein: Claudius knüpft in Reimschema und Textaussage ganz bewusst an Gerhardt als Vorbild an. Martin Geck stammt aus einer evangelischen Pastorenfamilie und auch seine Kindheitserfahrungen – sie gehen vermutlich konform mit denen vieler anderer – schließen das Singen des Abendliedes ein, es begleitet ihn bis heute und verkörpert in seinen Kernaussagen der christlichen Zuversicht, Hoffnung und Empathie Werte, für die Geck ausdrücklich steht. Insofern ist dieses Buch auch ein Bekenntnisbuch im besten Sinne und, so viel sei vorweg gesagt, Quintessenz seines Gelehrtenlebens geprägt von intellektueller und stilistischer Meisterschaft, verbunden mit Intuition, Aufrichtigkeit und Wahrheitsempfinden. Selten hatte ich ein Buch in Händen, das gleichzeitig auf so vielen Ebenen Ansprüchen gerecht wird, sei es nun wissenschaftliche Neugier, Einfühlungsvermögen, das Bedürfnis, Zusammenhängen nachzuspüren oder als Leser auf elegant formulierte und doch gut verständliche Weise eine Persönlichkeit des Geisteslebens und damit eine ganze Epoche zu erfahren.
Matthias Claudius, dessen Todestag sich im Januar 2015 zum 200. Male jährte, entstammt wie sein Biograph einer evangelischen Pfarrersfamilie, 1740 wird er im Holsteinischen geboren. Die Familie war kinderreich, frühe Todeserfahrungen und wirtschaftliche Not waren an der Tagesordnung, nur an Bildung wurde nicht gespart. Nichtsdestoweniger erlebte Claudius eine überaus glückliche Kindheit, was in damaliger Zeit und unter den gegebenen Verhältnissen eher eine Ausnahme gewesen sein dürfte. Mit seinem Bruder Josias bezieht er 1759 die Universität Jena, um zunächst Theologie zu studieren, bricht dann aber ab und wechselt zur Jurisprudenz, die ihn ebenfalls nicht zu fesseln vermag. Seine Leidenschaft gilt der schönen Literatur, er versucht sich im Schreiben von kleineren Prosastücken – auch eine umfangreiche Trauerrede auf seinen Bruder Josias, der in Jena an den Blattern stirbt, ist erhalten – tritt einem Lese- und Diskussionszirkel bei und knüpft ganz nebenbei wichtige Kontakte. Nach zwei Jahren verlässt er Jena ohne Abschluss. Aus der Sicht heutiger Bildungsforscher ist das sicher eine Horrorvorstellung und doch hat Claudius seinem Lebensweg damit die entscheidende Wende gegeben. Nach einem kurzen Intermezzo bei einem Hamburger Nachrichtenblatt wird er in Wandsbek – damals Wandsbeck geschrieben – Redakteur der Tageszeitung Der Wandsbecker Bote. Dieses Amt versieht er mit Umtriebigkeit, journalistischem Gespür für zeitgemäße Themen und feuilletonistischem Anspruch. Er sammelt Beiträge, rezensiert, schreibt selbst, kommentiert, wählt aus, redigiert und schaut dabei dem Volk genau „auf’s Maul”, so wie es Martin Luther, ein weiteres Vorbild, selbst gehalten hat. Dem Amt des Boten hat er sich dabei in gewisser Weise anverwandelt, er sieht sich selbst als Überbringer und nicht selten Deuter der Nachricht. Leider wird das Erscheinen des Blattes aus finanziellen Gründen eingestellt, denn die Abonnements gehen über mehrere hundert nicht hinaus, auch weil die Hamburger sich entschieden gegen publizistische Einmischung von außerhalb verwahren. Claudius, der mittlerweile selbst eine Familie zu versorgen hat, muss sich anderweitig orientieren. Seine Gabe zum Netzwerken macht sich hier bezahlt: er verfügt über freundschaftliche Beziehungen zu vielen Geistesgrößen damaliger Zeit, so zu Dichtern des Göttinger Hainbundes wie Bürger, Klopstock, Voß oder Hölty. Auch knüpft er Kontakte zu Carl Philipp Emanuel Bach, Lessing und Herder. Auf Vermittlung des Letzteren übersiedelt er mit seiner Familie als sog. Land-Commissarius nach Darmstadt.
Das administrative Amt liegt ihm nicht, Hofintrigen zermürben ihn, das Dichten fällt ihm schwer und nicht zuletzt plagt ihn das Heimweh, so dass er völlig mittellos zurückkehrt und in Wandsbek einen Neuanfang wagt. Unter dem Namen seiner ehemaligen Zeitung Der Wandsbecker Bote publiziert er nun selbst seine Gedichte und andere Schriften, als Vorstand einer auf 13 Köpfe angewachsenen Familie bewegt er sich dabei auf dem schmalen Grat zwischen Berufung und wirtschaftlichem Ruin. Späte Genugtuung verschafft ihm eine lebenslange, wenn auch nicht allzu üppige Pfründe, die ihm wiederum von Freunden befördert, durch adlige Gönner gewährt wird. Die Jahre von 1778 bis zu seinem Tod 1815 in Wandsbek sind geprägt von Produktivität, Genügsam- wenn auch nicht geistiger Enthaltsamkeit, Kreativität und heiterer Gelassenheit. Goethe sah ihn mit Herablassung und doch gehörte er zu den am weitesten verbreiteten und einflussreichsten Autoren des 18. Jahrhunderts. Der Werbetext des Verlages reduziert dabei notgedrungen den Dichter auf seine vorgeblichen Widersprüche, so zum Beispiel seine Mischung aus Naivität und Tiefsinn, Spötterei und Empfindsamkeit, den Balanceakt zwischen Gefühl und Vernunft oder der Dichotomie von Obrigkeitsgehorsam/Aufbegehren, Freimaurerei/Christentum, Begriffe, die sich in Wahrheit ergänzen. So manche Parallelen im Leben von Biographiertem und Biograph sind nicht zu übersehen: christlicher Hintergrund, frühe Todeserfahrung in der Familie, wirtschaftliche Not und Krieg sind nur einige davon.
Martin Geck gelingt es auf unnachahmliche Weise, sich vermeintlichen Gegensätzen zu nähern und seine Sympathie für den Protagonisten bei gleichzeitig klarem Blick für Person und Verhältnisse so auf dessen Werk zu übertragen. Als Lebenskünstler par excellence war Claudius immer pragmatisch und arrangierte sich mit den Verhältnissen, denen er positive Seiten abgewann, wo er sie nicht ändern konnte. Seine Menschenliebe speiste sich aus gelebtem Christentum und spricht uns in seinen Texten auch heute noch unmittelbar an. Sophisterei und Intellektualität waren ihm suspekt, auch deswegen dichtete er entlang der Bedürfnisse des sogenannten einfachen Volkes, das aus seinen Texten Trost und Zuversicht bezog. Schubert (Der Tod und das Mädchen, Täglich zu singen) und Schumann, um nur einige bedeutende Komponisten zu nennen vertonten seine Gedichte; J. A. P. Schulz, wiewohl weniger bekannt, ist durch seinen Satz des Abendliedes unsterblich geworden. Hier schließt sich der Kreis zum Epilog des Biographen, der ganz im Sinne der heiteren Gelassenheit, wie sie im Abendlied zum Ausdruck kommt, resümiert, worin das Unzeitgemäße des Dichters Claudius besteht: indem er losgelöst von den Grenzen „romantischer Subjektivität und deutscher Innerlichkeit“ (S. 276) die Zeitläufte überdauernde menschliche Existenzerfahrungen thematisiert. Ein wunderbares Buch!
Claudia Niebel
Stuttgart, 29.01.2015