Simon Laks: Musik in Auschwitz. Aus dem Poln. von Marika und Karlheinz Michel. Durchges. und erw. Neuausg. Hrsg. von Frank Harders-Wuthenow und Elisabeth Hufnagel. Mit einem Nachwort von André Laks und Frank Harders-Wuthenow – Berlin: Boosey & Hawkes, 2014. – 169 S.: Begleit-CD
ISBN 978-3-7931-4082-5 : € 29,95 (geb.)
Als vor siebzig Jahren die Rote Armee die südwestpolnische Stadt Oświeҫim einnahm und die Häftlinge des Vernichtungslager Auschwitz II (Birkenau) befreite, war der polnisch-französische jüdische Geiger und Komponist Simon Laks zusammen mit seinen Orchesterkollegen schon über Sachsenhausen in ein Arbeitslager in der Nähe von Dachau „evakuiert“ worden. Dort gab es keine Instrumente, keine Musik und keine Privilegien mehr und – dieses ahnend – verließ der Lagerkapellmeister Laks im November 1944 „Birkenau mit Bedauern“. Diese Formulierung gegen Schluß seiner Chronik zeigt die ganze verkehrte Welt, die Umkehrung aller menschlichen Werte in den Lagern, deren genauer und schonungsloser Zeuge und Schilderer der Musiker Laks ist. Sein Bericht ist nur insofern ein Buch über Musik als es Fragen nach der Rolle von Musik und nach der Lebenseinstellung von Musikern in Extremsituationen zur Voraussetzung hat: Musik angesichts des Massenmords und inmitten seines Vollzugs. Es ist auch die Schilderung von Musik, die nicht zum Widerstand taugt und der Gefahr des Bündnisses mit den Mördern ausgesetzt ist. Die in Birkenau gespielten Märsche für den täglichen Aus- und Wiedereinmarsch der Häftlinge und die sentimentalen Stücke für die Menschenschinder hatten zweierlei von Laks beschriebene Funktionen: die dem Tod geweihten Gefangenen zu betäuben und dem von seinen anstrengenden Verbrechen erschöpften Lagerpersonal Erholung zu gewähren – nur darum ging es. Und in Ausnahmefällen war für die Musiker neben den verbesserten Wohnverhältnissen und den erhöhten Essensrationen manches nicht öffentlich gespielte Musikstück ein seelisches Stärkungsmittel.
Ohne zu moralisieren und Urteile zu fällen beschreibt Laks die Stellung der Musik und das Leben von Musikern zwischen jenen beiden erniedrigenden und demütigenden Aufgaben. Eine ähnlich tragische und unentrinnbare Position des Musikers kannte man bisher nur annähernd aus der Antike, vom Schicksal des Sängers am Hofe des Odysseus, der angesichts der Extremsituation, zusammen mit der Freiern Penelopes getötet zu werden, um sein Leben fleht, indem er auf die Nützlichkeit seiner Musik für die Unterhaltung der Herrschenden verweist.
Ganz ohne Sentimentalität, ja gerichtet gegen die Sentimentalität der SS-Schergen, die sich so musikliebend vorkamen, und die anderer Überlebender und Nachgeborener, die fast zynisch davon sprachen, wie wohltuend und lebenserhaltend den Hungernden und Geschundenen die von der Lagerkapelle gespielte Musik angeblich gewesen sein sollte, nennt Laks jene schändliche Doppelfunktion der Musik inmitten der Vernichtungsmaschinerie beim Namen. Schonungslos auch gegen sich selbst beschreibt er den Prozess der Gewöhnung an die Lagermentalität, das Suchen nach Überlebenschancen, das Ergreifen der Zufälle, die sich bieten, um innerhalb der Lagerhierarchie in eine Position zu gelangen, durch die man vielleicht gerettet werden könnte. Sein Aufstieg zum Lagerkapellmeister war eine Gratwanderung, die persönlichen Lebenschancen zu nutzen, ohne gegen andere Mithäftlinge in Unmenschlichkeit zu verfallen. Letztlich hat er auch das Schicksal der Mitglieder des Orchester verbessern können: Einführung von Probenachmittagen, um der zerstörerischen Arbeit außerhalb des Lagers zu entkommen, Erlaubnis bei schlechtem Wetter nicht spielen zu müssen (offiziell „um die Instrumente zu schonen“), Einführung von Sonntagnachmittagskonzerten für alle. Ansonsten war das Orchester erschreckend tief einbezogen in das sogenannte „Organisieren“, d.h. das Beschaffen von Vorteilen und der Teilhabe an den Raubzügen bei den Hinterlassenschaften der im Lager Ermordeten. Auch die Notenpulte und Instrumente der Vergasten und Verbrannten aus anderen Blöcken und Lagerteilen „durfte“ man anschließend benutzen. Insofern decken sich Laks’ Erzählungen mit denen anderer überlebender Lagerinsassen, besonders dem der Violoncellistin des Frauenlagers von Auschwitz I, Anita Lasker-Wallfisch. Nur in einem Punkt übersteigt Laks wirklich das bisher schon Unvorstellbare mit dem Hinweis auf das von anderen stets abgestrittene grausige Phänomen, den Gang in die Gaskammern direkt mit Musik begleitet zu haben: „Eingelullt durch unsere Sirenen-Musik marschieren die Menschenmassen friedlich zu ihrer Hinrichtung“ (S. 87). Es ist eine der erschütternden Stärken dieses Berichts, auch solche harten Tatsachen nicht in den beschönigenden Mantel des Schweigens zu hüllen.
Besser als alles Moralisieren eröffnet Laks Einblicke in die Fähigkeiten der Menschen zur Verrohung, zur Reduktion auf Instinkte und nimmt sich selber nicht aus diesem Zusammenhang heraus; er weiß, dass er zur Lageraristokratie, zur Prominenz, zu den Privilegierten gehört hat und dass er nur dem Nachgeben gegenüber diesen Mechanismen sein Überleben zu verdanken hat. Mit aller Sympathie schildert Laks aber auch Gesten der Menschlichkeit unter den Häftlingen, und mit aller Schärfe zeigt er die Dummheit, Arroganz und Brutalität der Wärter. Sie laben sich an deutschen Märschen, predigen öffentlich deutsche Musik und trinken heimlich polnische, jüdische und russische Musik, die Laks für sie arrangiert, lassen sich ein von Laks komponiertes Streichquartett als eins von Dittersdorf verkaufen und finden es besonders gut, weil „so deutsch“. Laks lässt tief in die Niedertracht des Menschengeschlechts blicken und erzählt von seinen Tricks, sie zu unterwandern. Ein desillusionierendes und ermutigendes Buch zugleich.
Simon Laks veröffentlichte 1948 in Paris zusammen mit René Coudy, einem Leidensgenossen in Auschwitz, ein Buch über die Funktion der Musik im Vernichtungslager, Musique d’un autre monde, das er 1978 allein in erweiterter Form auf Polnisch herausgab. Diese zweite deutsche Ausgabe berichtigt einige in der 1. Auflage (1998) vorgenommenen Verunstaltungen gegenüber dem polnischen Original und erweitert es um ein editorisches Vorwort der Herausgeber, eine Erinnerung des Sohnes André Laks an den Vater sowie ein weiteres Nachwort, in dem der Komponist Simon Laks vorgestellt wird. Der große Vorteil dieser erweiterten 2. Auflage ist die Öffnung des Blicks auf die Musik von Laks; denn er hat vor seiner Deportation aus Frankreich, im Lager und nach dessen Überleben interessante, lebenssatte Musik komponiert, die hier zusätzlich mit einem Werkverzeichnis, einer Diskographie erschlossen und auf einer beigelegten CD hörbar gemacht wird.
Peter Sühring
Berlin, 24.01.2015
Simon (Szymon) Laks (1901-1983),