Gruber, Sabine M.: Chorprobe. Roman – Wien: Picus, 2014. – 288 S.
ISBN 978-3-7117-2013-9 : € 22,90 (geb.)
Mit ihrem neuen Roman kehrt die österreichische Musikpublizistin und Schriftstellerin Sabine M. Gruber in den Mikrokosmos der Chöre und Chorproben zurück, dem sie aus ihrer persönlichen Erfahrungswelt als langjähriges Mitglied des Arnold Schoenberg Chores bereits 2009 mit ihrem Buch Mit einem Fuß in der Frühlingswiese. Ein Spaziergang durch Haydns Jahreszeiten mit Sprachbildern von Nikolaus Harnoncourt ein Denkmal gesetzt hat. Diesmal jedoch bereitet die Autorin das Thema als eine fiktive Geschichte auf, als einen psychologisierenden Entwicklungs- und Liebesroman voller Märchenmetaphorik, der den Weg einer zunächst unsicheren jungen Frau namens Cindy hin zu künstlerischer und sozialer Selbstbestimmung, eingebettet in die eigentümliche und oft bedrohliche Dynamik innerhalb eines von hierarchischen Strukturen geprägten Chorkörpers, nachzeichnet.
Cindy, deren voller Name Lucinda Franck lautet, ist die eigentliche Protagonistin des Romans. Es sind ihre Probleme, Überlegungen und Entscheidungen, die den roten Faden bilden, der die Teilbereiche der Handlung zu einem Ganzen zusammenfügt. Dass Cindy auch gelegentlich mit dem Spitznamen „Cinderella“ angesprochen wird, ist kein Zufall: Motive aus den Märchen der Gebrüder Grimm tauchen, wohl um auf ein in uns allen tief verankertes, wenn auch meist unbewusstes Verlangen nach Realitätsflucht zu verweisen, wiederholt wie aus dem Nichts auf, ohne jedoch den Verlauf der Ereignisse maßgeblich zu beeinflussen. Als Folge der sich daraus nahezu zwingend ergebenden Dynamik begegnet die Leserschaft unter anderem der Figur der obligatorisch bösen (Stief-)Mutter, in deren permanenter Kritik Cindy die Ursache ihrer eigenen Unsicherheit und Versagensängste zu erkennen glaubt. Ob zu Recht oder nicht, spielt keine Rolle: Wahrnehmung schafft Realität. Vielleicht ist es diese Erkenntnis, die, zwar unausgesprochen, aber latent in jedem der 26 Kapitel ein wenig mitschwingt. So fügt es sich auch, dass Cindy just zu dem Zeitpunkt, als sie sich als Sängerin erstmals selbstbewusster fühlt, zum Vorsingen beim berühmten Wiener Chorus eingeladen und in der Folge sogar aufgenommen wird (dass dafür jedoch neben ihren musikalischen Fähigkeiten noch eine ganze Reihe anderer Faktoren mindestens ebenso ausschlaggebend ist, versteht sich allerdings von selbst). Damit kommt die eigentliche Geschichte erst ins Rollen, und das Märchen darüber, wie Cinderella zu ihrem persönlichen Happy End (oder besser lieto fine?) findet, beginnt. Auf dem Weg dahin lauern aber natürlich auch Gefahren – allen voran der „böse Wolf“ in Gestalt des künstlerischen Leiters des Chorus Wolfgang G. Hochreither, einem ehemaligen Wiener Sängerknaben und egomanischen Soziopathen, der seinen Geltungsdrang zu Lasten des Chores auszuleben versucht und nebenbei bevorzugt Jagd auf frisch zur Herde gestoßene, weibliche Schäflein macht. Wenig überraschend: Der böse Wolf hatte eine schwere Kindheit. Sein Leben wird von einer übermächtigen Mutterfigur dominiert. Hier immerhin könnte sich ein gemeinsamer Nenner mit Cindy eröffnen, die auch prompt sein neuestes Opfer zu werden droht und der es trotz der Warnungen ihrer neuen Kollegen gar nicht immer so leicht fällt, sich der Aura des tyrannischen Chorleiters zu entziehen. Gerade dadurch ergibt sich aber letztlich auch eben jener Anstoß, der Cindys bislang weitgehend verschüttete Fähigkeit zu Reflexion und Selbstreflexion anregt.
Natürlich kommt auch die Musik an sich in Sabine M. Grubers neuem Roman nicht zu kurz. Unter anderem mit Händels Messias, Haydns Jahreszeiten und Monteverdis Marienvesper finden große Werke der Chorliteratur Eingang in Grubers Milieustudie. In diesem Kontext gewinnt die Figur des Stardirigenten Viktor von Weiden an Bedeutung, der regelmäßig mit dem Chorus konzertiert. Wenn Wolfgang Hochreither die eine Seite des möglichen Spektrums von im Konzertbetrieb etablierten Chorleitern bzw. Dirigenten repräsentiert, so steht von Weiden am ihm entgegengesetzten Ende: Hier trifft Licht auf Schatten; wahres Künstlertum auf Selbstdarstellung und Größenwahn. Von Weidens Fähigkeit, seine interpretatorischen Vorstellungen in verständlichen Bildern zu kommunizieren und seine rücksichtsvolle Art, Proben abzuhalten eröffnen dem Chorus eine völlig neue Welt: „Wieder einmal hat die Musik den Sieg davongetragen. Die Wunden sind notdürftig verschlossen, Viktor von Weiden hat seinen homöopathischen Balsam darübergestrichen.“ (S. 271)
Sabine M. Gruber dürfte mit Chorprobe wohl Ernest Hemingways Rat gefolgt sein, über das zu schreiben, was man kennt. Viele Elemente ihrer eigenen Biographie verbergen sich, mehr oder weniger offensichtlich und verfremdet, in ihrer Neuerscheinung – in ein modernes Märchen für Erwachsene verwandelt, an dessen Ende der böse Wolf natürlich seiner verdienten Strafe zugeführt wird und Cinderella ihrem wahren Prinzen, der ein Landschaftsgärtner ist, schließlich das Ja-Wort gibt. Gleichsam als Beifang erhascht man als LeserIn einen Blick hinter die Kulissen der großen und kleinen Konzertpodien, auf eine verlockende, aber oft auch feindselige Welt zwischen Probenarbeit, Intrigenspiel und Kunst. Man muss nicht selbst Teil eines Chor- oder Orchesterapparates sein (nein, es ist nicht immer so schlimm!), um die Seiten von Grubers Roman mit Interesse umzublättern, bis man den letzten Satz erreicht: „Es gibt doch ein Leben nach dem Chorus, haben wir es nicht immer schon geahnt?“ (S. 287)
Michaela Krucsay
Leoben, 11.12.2014
Roman, Geschenk,