Materne, Nikola: Popvocals – der Weg zur eigenen Stimme. Finde Deinen Stil und Deinen Ausdruck – Kassel: Henschel/Bärenreiter, 2014. – 160 S.
ISBN 978-3-89487-937-2 : € 16,95 (geb.)
Das Ziel ist der Weg. Und gemeint ist der Weg zur – wohlgemerkt „eigenen“ – Stimme. Letztere muss, wenn es nach Autorin Nikola Materne geht, nämlich erst einmal gefunden werden. Denn eine gute Stimme allein reiche nicht für eine Karriere als Popsänger aus, so Materne, sondern hierfür bedürfe es vor allem einer gewissen Aura. Endlich mal ein Buch für alle Pop-, Rock- und Jazz-Sänger also, die ihren eigenen Stil entwickeln möchten…
Nikola Materne weiß wovon sie schreibt. Sie ist selbst als Singer/Songwriterin mit ihren eigenen Bands Sphere und Bossanoire sowie als Studio- und Gastsängerin mit zahlreichen Formationen unterwegs. Außerdem hat Materne einen Lehrauftrag an der Musikhochschule Münster. Aber um die Lehre soll es in diesem Buch nicht gehen. Was in anderen zahlreichen Gesangs-Lehrwerken eher zum Schluss – wenn überhaupt – erscheint, steht hier am Anfang und umkehrt. Zuallererst geht es einmal darum, als Sänger seinen eigenen Ausdruck zu finden. Die sonst oft üblichen Basics zu Atem- und Stimmtechnik werden zwar immer mal wieder eingestreut, aber erst gegen Ende in einem eigenen Kapitel erwähnt. Bei Bedarf können sich die Leser in anderen „Lehr“-Werken schlau machen. Deshalb dürfte ein Gesangsneuling eher weniger mit dem Buch anfangen bzw. sich darin noch nicht wiederfinden können. Denn Gesangserfahrung setzt die Autorin bereits voraus. Für wen ist das Buch aber dann geeignet?
Sicher für alle, die eine Orientierungshilfe in der Welt der Popmusik – dabei werden die Begriffe Pop-, Popularmusik und populäre Musik wild durcheinander gewürfelt – suchen und ihren eigenen Standort darin bestimmen möchten. Allerdings soll die Publikation bewusst keinen Lehrer ersetzen. Der lesende Sänger soll in erster Linie zu seiner eigenen Authentizität finden und lernen, wie er sie nutzbringend einsetzt, auch ohne gesangspezifische Übungen. Diese werden zwar ansatzweise immer mal wieder eingestreut, stehen aber stets im Bezug zu vielen umfangreichen, teils theoretischen Arbeitsaufgaben, die eher analytische Fähigkeiten und Selbstreflexion erfordern. Zum Beispiel sollen anhand erklärter Gegensatzpaare, wie „laut – leise“, „zurückhaltend“ – Show machend“ etc., ein eigener Stimmsound, Stil, Bühnenpräsenz, Persönlichkeit u.v.m. entwickelt werden. Denn nur wer sich als Vokalist, so die Autorin, durch eine individuelle Stimme und ein markantes Auftreten aus der Masse heraushebt, wird überhaupt erst registriert. Dies untermauert sie auch anhand unterschiedlicher Charaktere bekannter Sänger und durch unterschiedliche Interpretationen, die sie im hinteren Teil des Buches in einer Liste zusammengefasst hat. Eine Audio-CD mit Songbeispielen wäre in diesem Zusammenhang evtl. eine Bereicherung, jedoch im Internet-Zeitalter nicht unbedingt nötig, gewesen, da man sich je nach Interesse einzelne Lieder auch gezielt heraussuchen kann.
Kurzum: Geliebt wird der Star, der überzeugt, also, weil er authentisch ist. Die Sängerin und Gesangspädagogin leitet ihre Leser an, sich selbst kennenzulernen, zu erfahren, wie die Stimme die eigene Persönlichkeit widerspiegelt und wie man mit Frust und Krisen umgehen kann, in einer Art „Selbstcoaching“. Und das funktioniert?
Wer ausschließlich autodidaktisch singen lernen möchte, sollte Popvocals – der Weg zur eigenen Stimme vorerst zur Seite legen. Aber wer die nötigen Voraussetzungen schon mitbringt, kann versuchen, sich voll und ganz darauf einzulassen. Für alle, die danach Popgesangsprofi werden wollen, gibt es im Anhang ein Verzeichnis mit Musikhochschulen in Deutschland, an denen man diese Richtung studieren kann. Doch auch so manchen Popgesangslehrern könnte das Buch durchaus in einigen Punkten den Horizont erweitern. Vor allem eines kann ein jeder hier lernen: Nicht die Gesangstechnik allein entscheidet über den Erfolg eines Popsängers, sondern der Künstler als Individuum zählt. Bis er eigenen Stil gefunden hat – der im Pop, Rock, Soul oder Jazz oft ausschlaggebend ist – ist es oft ein langer Weg, auf dem jeder Orientierungs-Input zählt.
Rebecca Berg
Frankfurt am Main, 10.10.2014