Klönne, Gisa: Das Lied der Stare nach dem Frost. Roman – München [u.a.]: Piper, 2014. – 496 S.
ISBN 978-3-492-30476-4 : € 9,99 (Kart.)
Gisa Klönne hat sich längst mit ihrer Judith Krieger-Reihe als Krimi-Autorin einen Namen gemacht, und auch in ihrem ersten Roman, der sich mit einer Familiengeschichte und der ihr eigenen Mythenbildung befasst, ist die Nähe zum Krimi deutlich spürbar: Letztlich dreht sich alles um die Aufklärung eines Familiengeheimnisses, das zumindest über drei Generationen hinweg zwischenmenschliche Beziehungen und Lebenswege bestimmt hat. Die Leserschaft begleitet eine der Betroffenen, Ricarda Hinrichs (genannt Rixa) auf ihrer ansonsten einsamen Wanderschaft durch eine oftmals beklemmende, stets trügerische Mythenlandschaft, die über einen Zeitraum von 1915 und dem Ersten Weltkrieg über die Schreckensjahre des Nationalsozialismus, über DDR und BRD bis in unsere unmittelbare Gegenwart konstruiert worden ist. Rixa ist eine Barpianistin, die ihre Träume von einer Karriere als Solistin in großen Konzertsälen nicht zuletzt wegen ihrer schwierigen Familienkonstellation hat begraben müssen. Wie einen Kokon trägt sie zumeist diffuse Empfindungen von Verlust, Schuld und Entwurzeltheit auf ihrer Flucht vor dem eisigen Griff der Vergangenheit mit sich herum, bis der rätselhafte Unfalltod ihrer Mutter die lebenslange, halb unbewusste Flucht in die Suche nach Antworten umkehrt. Es ist jedoch eine Suche, die oft in die Irre führt. Immer wieder scheinen – wenn auch unliebsame – Erkenntnisse zum Greifen nahe, die sich dann doch als Irrtümer erweisen. Rasch begreift man, dass so manche Tragödie weit tiefer reicht, als man zunächst ahnen mag – was sie jedoch nicht von der ihr eigenen bitteren Alltäglichkeit befreit.
Klönne erzählt ihren Roman nicht nur aus der Sicht ihrer wichtigsten Protagonistin Ricarda Hinrichs, sondern aus den psychologisch-persönlich wie auch zeitbedingt differierenden Perspektiven verschiedener Mitglieder des „Retzlaff-Clans“, Rixas Familie mütterlicherseits. Dabei lernt man Schritt für Schritt die Menschen hinter den Geschichten, Masken und Geheimnissen kennen und findet sich, wie die stets etwas verloren wirkende Rixa, deren persönlicher Lebensweg in unserer Gegenwart den Ankerpunkt der Handlung bildet, zunehmend in einem Mahlstrom totgeschwiegener oder verdrängter Episoden aus der Vergangenheit wieder:
Da wäre zunächst Rixas seit ihrer frühesten Jugend unsichere, von Selbstzweifeln geplagte Großmutter, die deutlich masochistische Züge aufweist. Ihrem Ehegatten ist sie in aufopfernder, geradezu an Hörigkeit grenzender Liebe ergeben. Dieser Mann, ein ehemaliger Pastor, den Rixa aus ihrer im Nachhinein märchenhaft verklärten Kindheit als zwar strengen, aber stets liebevollen und naturverbundenen Großvater kennengelernt hat, entpuppt sich seinerseits zunehmend als unerbittlicher Patriarch, der trotz seiner demonstrativen Härte unter dem Trauma des von ihm in jungen Jahren auf dem Schlachtfeld erlebten Ersten Weltkriegs und dem dortigen Verlust des geliebten Bruders leidet. Ricarda Hinrichs muss sich zahlreichen unangenehmen Wahrheiten stellen, unter denen es nicht die geringste ist, dass der von ihr idealisierte Großvater sowohl der nationalsozialistischen Partei als auch deren menschenverachtender Ideologie über lange Zeit hinweg weit enger verbunden war, als sie sich je hätte vorstellen können. In all ihrer Mehrdeutigkeit wird die Erinnerung Rixas an einen Spaziergang mit dem Großvater zu einer wichtigen Schlüsselpassage: „,Und wie singen Stare?‘ ,Das ist schwer zu sagen, man kann ihnen nicht trauen.‘ Ich starrte ihn an. Die Stare glänzten so hübsch im Sonnenschein. Waren das wirklich heimtückische Vögel? ,Sie singen mal so und mal so, Mädchen, sie äffen die anderen einfach nur nach.‘ ,Warum machen sie das?‘ , Gott hat sie so geschaffen.‘“ (S. 88) Wofür in den Gedanken des Großvaters hier die Metapher der Stare steht, ob als Referenz auf die während des NS-Regimes verbotene „jüdische“, als „entartet“ verfemte Musik etwa eines Felix Mendelssohn Bartholdy oder ob sich hier doch eher etwas wie Selbstkritik an der eigenen, im Nachhinein bedauerten Haltung zu jener Zeit spiegelt, bleibt letztlich offen.
Generell spielt Musik im vorliegenden Roman von Gisa Klönne eine bedeutende Rolle, die weit über atmosphärische Referenzen hinausgeht. Auf ihrer Homepage erklärt die Autorin, die dort überdies ein PDF-Dokument mit einer umfassenden Liste der im Roman genannten Kompositionen zur Verfügung stellt: „Musik spielt in all meinen Romanen eine gewisse Rolle, doch DAS LIED DER STARE NACH DEM FROST wäre ohne Musik nicht denkbar. Am Ende habe ich durchgezählt und war überrascht: 85 Rocksongs, Kirchenlieder, Sinfonien, Klavierpartituren von 76 Komponisten und Interpreten aus sechs Jahrhunderten haben Einzug in dieses Buch gehalten. Das Spektrum reicht von Martin Luthers Vom Himmel hoch da komm ich her aus dem Jahr 1539 bis zu Seven Devils von Florence & The Machine im Jahr 2012.“ (www.gisa-kloenne.de, abgerufen am 01.10.2014) Franz Schuberts auf Gedichten von Wilhelm Müller basierender Liederzyklus Winterreise nimmt innerhalb dieser Fülle jedoch eine konkurrenzlose Sonderposition ein, indem er Inneres und Äußeres, Umwelt und Mensch miteinander verbindet. Nicht nur findet Ricarda Hinrichs erzwungene Reise in die Vergangenheit selbstverständlich im Winter statt (auf den ersten Blick ein vielleicht unnötiger Wink mit dem Zaunpfahl, der in Bezug auf das Gesamtbild jedoch absolut Sinn ergibt), nicht nur bildet eine missglückte Darbietung der Winterreise eine Schlüsselepisode ihrer Kindertage, die sie ihr Leben lang begleitet: Immer wieder finden wichtige Wendepunkte im Winter statt, verknüpft mit erstarrter Natur, Schnee und Eis – traditionelle Bilder vom Winter der Seele. Schubert verwebt die Ebenen von Raum und Zeit, hält zusammen, was längst auseinandergebrochen ist. Unmittelbar drängt sich beim Lesen jenes Schlagwort vom „Dialekt ohne Erde“ ins Bewusstsein, das Adorno in Bezug auf Schubert geprägt hat – einem Dialekt, der nicht mehr mit dem Bild einer in die Ferne gerückten Heimat verbunden ist.
Das Lied der Stare nach dem Frost ist ein Roman für neblige Tage im Spätherbst und fallende Blätter, die vom nahenden Winter künden. Unaufgeregt, aber ohne dass je Langeweile aufkeimen könnte, führt Gisa Klönne ihre Leserschaft durch den Irrgarten von Liebe und Betrug, von Schuld und Buße, den ihre psychologisch geradezu drückend realistisch gestalteten Protagonisten errichtet haben. Es handelt sich um eine absolut empfehlenswerte Lektüre für all jene, die an Zeitgeschichte, der Rolle der Kirchen (speziell der Protestantischen) im Nationalsozialismus und an Familienepen interessiert sind, aber auch für Liebhaber von Kriminalromanen, die ohne überhitzte Actionszenen ihr Auskommen finden. Die prominente Behandlung von Musik quer durch die Genres ist dabei weit mehr als schmückendes Beiwerk. Erst sie verleiht der Handlung ihre Unmittelbarkeit und emotionale Tiefe, wenn man ihren Nachklang auch noch am Ende der letzten Seite in sich zu vernehmen vermeint. Nicht selbstverständlich für einen Roman: Nach der Schlussbemerkung der Autorin findet sich ein Verzeichnis der Quellen, die für die Entstehung des Buches maßgeblich waren.
Michaela Krucsay
Leoben, 01.10.2014