Back, Regina: „Freund meiner MusikSeele“. Felix Mendelssohn Bartholdy und Carl Klingemann im brieflichen Dialog – Kassel: Bärenreiter, 2014. –642 S.: Abb.
ISBN 978-3-7618-2299-9 : € 89,00 (geb.)
Erst nach der Beendigung der Mendelssohn-Briefausgabe, in der nur Briefe von und nicht auch an Mendelssohn enthalten sind, sollen die Gegenbriefe separat veröffentlicht werden. Mit dieser Ankündigung erregte der Verlag damals staunendes Fragen, wie das wohl realisiert werden könne. Regina Back, Mitherausgeberin des 1. Bandes der Mendelssohn-Briefe, hat nun mit ihrer Dissertation über Carl Klingemanns Freundschaft und Briefwechsel mit Felix Mendelssohn Bartholdy hinter die Kulissen schauen und den Arbeitshorizont deutlich werden lassen, der mit der Einlösung dieses Versprechens verbunden wäre.
Die Autorin bringt die problematische Seite und Nachteile eines solchen Vorgehens selbst zur Sprache, entlässt den Leser aber mit der Vorahnung, dass eines Tages, vermutlich (und hoffentlich) von ihr selbst herausgegeben, sämtliche Briefe Klingemanns an Mendelssohn erscheinen werden, zu denen man sich dann Mendelssohns Gegenbriefe in der 12‑bändigen Briefausgabe suchen muß. Eine Prozedur, die man sich höchstens noch für die Briefe zweier weiterer intensiver Freunde, Julius Schubring und Eduard Devrient, an Mendelssohn vorstellen kann, kaum aber für die vielen verstreuten Briefe weniger lang anhaltender Briefpartner Mendelssohns. (Für jene Schumanns wurde es bereits im Rahmen von dessen Briefedition als Veröffentlichung des Briefwechsels positiv gelöst).
Angeregt durch ihre erfolgreiche Suche nach den Gegenbriefen Klingemanns im Rahmen ihrer Kommentierung der Mendelssohn-Briefe (v.a. in der Bodleian Library in Oxford) hat Back nun das gesamte Korpus der Klingemann-Briefe erschlossen. Es stellte sich heraus, dass die bisher von der Forschung benutzte Ausgabe des Mendelssohn-Klingemann-Briefwechsels von 1909 große Lücken enthält und auch an entscheidenden Stellen verderbte Fassungen der veröffentlichten Briefe liefert. Der beschönigende Geist, in dem der Sohn Klingemanns diese Briefe herausgab, ähnelt dem der Lebensbeschreibung der Familie Mendelssohn durch Fannys Sohn Sebastian und kann heutigen kritischen Ansprüchen nicht standhalten.
So schießt Backs Buch nicht nur weit über den bisherigen Forschungsstand der Mendelssohn-Forschung hinaus, sondern eröffnet gleich das neue Feld einer Klingemann-Forschung, indem es umfangreiches biografisches und briefliches Material, nicht nur bezogen auf Mendelssohn, vorstellt und interpretiert und in sinnfällig kommentierter Weise erstmals zur Verfügung stellt. Aus diesem Material geht nicht nur hervor, wie Klingemann in England für die Verbreitung von Mendelssohns Werken und den erfolgreichen Verlauf von dessen Reisen auf der britischen Insel wirkte und sorgte, sondern auch, wie er auf dem Kontinent als Komponist, Korrespondent, Musikpublizist und Schriftsteller wirkte.
Zu folgenden Aspekten der bisher völlig vernachlässigten Opern-Produktion Mendelssohns trägt Backs Darstellung beispielsweise Neues bei: Das endgültige Libretto zur Oper Die Hochzeit des Camacho war ein Gemeinschaftsprodukt dreier Personen; die Vorlage des ursprünglich bestellten Librettisten Friedrichs Voigts wurde zwischen Klingemann und Mendelssohn diskutiert und bearbeitet. Die Zusammenarbeit Klingemanns mit Mendelssohn zur Herstellung des Librettos für das Liederspiel Aus der Fremde in Jahre 1829 war intensiver und detaillierter als bisher bekannt. Die Zusammenarbeit Mendelssohns mit Klingemann zur Vorbereitung weiterer Opernprojekte, konkret bezogen auf Pervonte nach Christoph Martin Wieland und The Tempest nach William Shakespeare, war ebenfalls intensiver als bisher vermutet. Auch wird man, was das Libretto zum Elias betrifft, nun nicht nur Schubrings, sondern auch Klingemanns Rolle besser einschätzen können.
Backs Pionierarbeit dokumentiert einen seriösen und quellenkritischen Stil in der Bearbeitung bisher ungesichteten und unausgewerteten Materials. Sie straft die vielerorts verbreitete pauschale Behauptung, man brauche zukünftig keine Bibliotheken und Archive mehr zu konsultieren, da das digitalisierte Kulturerbe sich demnächst komplett im Internet befände, Lügen. Unmittelbar ist es der Anhang dieses Buches, der zum weiteren Ausgangspunkt einer intensiven, quellenbezogenen Beschäftigung besonders mit Klingemann dienen kann. Auf 85 Seiten gibt es nicht nur eine erstaunlich umfangreiche Bibliografie, sondern ein Gesamtverzeichnis des Briefwechsels zwischen Mendelssohn und Klingemann in dem Zeitraum von 1826 bis 1847 und ein Werkverzeichnis Klingemanns mit seinen Lied-Kompositionen, Liedmanuskripten, Konzertrezensionen, Novellen, Libretti und Übersetzungen. Der Band ist mit einer großen Anzahl von Abbildungen ausgestattet, darunter neben Porträts auch viele Faksimiles gedruckter und handschriftlicher Werke Klingemanns. Backs Buch ist wie ein Schlüssel und eröffnet neue Perspektiven: Avanti!
Peter Sühring
Berlin, 10.08.2014