Baur, Eva Gesine: Mozart. Genius und Eros. Eine Biographie – München: C. H. Beck, 2014. –565 S.: Abb.
ISBN 978-3-406-66132-7 : € 24,95 (geb.; auch als E-book erhält.)
Mozart und kein Ende! Eva Gesine Baurs lobenswerter Versuch, Mozart als „Menschen in seinem Widerspruch“ und nicht als idealisierten guten Menschen und großen Künstler darzustellen, ist zwar gegenüber früheren Versuchen, ihn zu domestizieren, ein echter Fortschritt. Dennoch kann auch er nur ein weiterer Baustein dazu sein, das Rätsel Mozart zu vergegenwärtigen. Mehr ist wohl nie und nimmer möglich und wird auch von der Autorin nicht beansprucht. Der Mehrdeutigkeit der Dinge und menschlichen Charaktere in der Musik Raum zu geben, war die große Kunst Mozarts, von der Baur erzählt. Auch wenn man, wie der Rezensent, prinzipiell gegen Mystifikationen eingestellt ist, bleiben im Falle Mozarts etliche Umstände in seinem künstlerischen Schaffensprozess geheimnisvoll. Dem unerklärlichen Rest im ästhetischen Überschuss seiner Werke trägt die Darstellung von Baur voll Rechnung, ja es scheint ihr gerade um die Verteidigung letzter Geheimnisse der künstlerischen Phantasie am Beispiel Mozarts zu gehen. Die Vorstellung vom geheimnisvollen, dämonischen Genie Mozart ist ein alter Topos der populären und der wissenschaftlichen Mozart-Literatur nicht erst seit Wolfgang Hildesheimer (Mozart, 1977). Und die Wissenschaft hat es bisher nicht vermocht (und wird es, solange sie sich neutral und rationalistisch gebärdet, auch nicht schaffen), diesen unentbehrlichen Notausgang für die Erklärung des Phänomens Mozart überflüssig zu machen. Generell also ist Baurs Herangehensweise sympathisch, weil sie hier mehr als sonst fast alle erreichbaren Fakten berücksichtigt und weitgehend überzeugend interpretiert.
Wer gemeint hatte, angesichts der Flut an Mozart-Literatur zum 250. Geburtstag 2006 würde es so schnell keiner mehr wagen, eine umfangreiche Gesamtdarstellung Mozarts vorzulegen, sieht sich nun getäuscht und ist positiv überrascht über einen neuen biografisch-werkgeschichtlichen Entwurf. Baur versucht Mozart mit einer einzigen Sonde und einem einzigen, aber in sich weit gefächerten Zentralbegriff zu fassen, dem der Unfassbarkeit, des Eros, der sich stets dem Zugriff entzieht, nie auf einen bestimmten Charakter festlegen lässt. Mozart als unschöner Schönheitssucher, ungeliebt Liebender, närrischer Liebhaber der Weisheit. Darum bezeichnet die Autorin ihre Suche nach jenem Mozart, der unsere Vorstellungsmöglichkeiten übersteigt, auch zu Recht als eine philosophische. Wie für Martin Geck (Mozart, 2005) das philosophische Sinnbild des Harlekins, so ist für Baur der Eros der zentrale Begriff oder die zentrale Kraft, die Mozart beherrschte, und zwar in seiner ganzen Paradoxie und Oszillation. Eros beherrschte ihn so stark, dass Baur Mozart in manchen Szenen ihrer Erzählung einfach Eros nennt und als Eros auftreten lässt. Damit ist nicht die verkleinerte römische Figur eines Cupido gemeint, sondern jener mächtige erhebend-zerstörerische Eros, der im Symposion des Platon von Diotima in ihrer Ansprache vorgestellt wird. Dankenswerterweise lässt Baur dieses Plädoyer der Diotima im Anhang in neuer Übersetzung abdrucken. Auch Thanatos als stets benachbarte oder mit dem Eros verschlungene Kraft müsste hier eigentlich eine markante Rolle spielen.
Es kann hier nicht um das gehen, was auch Baur in diesem Buch zum tausendsten Mal erzählt, sondern nur um entdeckte Neuigkeiten oder neue Sichtweisen auf Altbekanntes. Aus der Mozart-Literatur der letzten Jahre werden einige Korrekturen positiv aufgegriffen und in eine breit angelegte Argumentation eingebettet. Baur will demonstrieren, wie Mozart lebenslang, von Kindesbeinen an, d.h. angefangen von seiner ersten Komposition, getrieben war von einem erotischen Impuls, der ihn die erfahrene Bittersüße des Lebens („Welterfahrung“) musikalisch auskosten ließ.
Wer weiß, dass Baur unter dem Pseudonym Lea Singer auch als Romanautorin aktiv ist, wird sich nicht wundern, in ihrer biografischen Mozart-Darstellung literarische Stilisierungen und Ausschmückungen zu finden. Sie erzählt manchmal nicht nur so, als wäre sie dabei gewesen, sondern auch als hätte sie die geheimen Motive der Akteure durchschaut. Erzählt wird in Präsens und Indikativ ‑ ein literarischer Trick, um die Sache lebendig zu halten – , mitunter wäre allerdings der Konjunktiv angebrachter gewesen. Man fragt sich ab und zu, woher die Autorin das alles wissen will. Manchmal erreicht sie allein durch eine ungewöhnlich pointierte Zusammenstellung von Fakten echte oder auch nur suggestive Erkenntnisse (wie z. B. bei der plötzlich beleuchteten Bedeutung jener Logensitzung vom 17. November 1791, nach der es mit Mozart kontinuierlich dem Sterben zuläuft, S. 381/82).
Allein gestützt auf Hör- und Leseerfahrungen der Musik Mozarts (ohne die Leser mit Notenbeispielen zu behelligen), auf die Gesamtausgabe der Briefe der Mozarts und eine gezielte Auswahl aus der schier unübersehbaren Sekundärliteratur, vermag die Autorin, ein weitgehend schlüssiges Bild von Mozarts widersprüchlichem Charakter zu zeichnen. Sie will den Fallen, die Mozart seinen Zeitgenossen und seinen Nachgeborenen gestellt hat, entkommen, indem sie seine Fallenstellerei aufdeckt. Ob ihr das gelungen ist, muss jeder Leser für sich entscheiden. Bei ihrer Apotheose Mozarts als Mittelding zwischen Gott und Mensch und (in Anschluss an Richard Strauss) seiner Musik als einer Sache, die sich selbst genügt, weil sie von „jeder irdischen Gestalt losgelöst“ sei (Schlussworte auf S. 386), fragt man sich allerdings, was der Ertrag dieses metaphysischen Aufwands sein soll. Ist Mozarts Musik nicht eher selbst eine irdische Gestalt geworden, die göttlich ist, insofern sie frei und schön, natürlich und vernünftig ist?
Zu zwei kleinen Fakten, bei denen der Rezensent glaubt, sich auszukennen:
a) Im Zusammenhang der großen Reise der Familie Mozart durch Europa in den Jahren 1763-66, den gemeinsamen Auftritten Wolfgang Mozarts mit seiner Schwester Marianne oder dem Zusammenspiel mit Johann Christian Bach in London ist es seltsam, dass Baur nicht erwähnt, wie daraus die erste vierhändige Klaviersonate der Musikgeschichte entstand, die zwar ungedruckt blieb, aber (nach neuesten Erkenntnissen) auf der Rückfahrt von London auch in Calais zelebriert wurde Von ihr kann die Forschung noch nicht sagen (und wird es wohl nie sagen können), ob sie mit der nur als Abschrift überlieferten, Mozart nur zugeschriebenen Sonate KV 19d identisch ist.
b) Die einzige Oper, die Mozart ohne konkreten Auftrag geschrieben hat, Zaïde, wird aus mehreren Gründen als „Fragment“ angesehen. Erstens fehlt ihr eine Ouvertüre, die Mozart aus Erfahrung am liebsten erst am Schluss, kurz vor einer eventuellen Aufführung wohl noch geschrieben hätte. Zweitens sind die als gesprochene vorgegebenen Dialoge des Librettisten Schachtner bis auf zwei, die Mozart als Melodrame vertont hat, verloren gegangen. Drittens wird stets ins Feld geführt, ihr fehle (trotz des abschließenden tragischen Finalensembles am Ende des 2. Aktes) der Schluss in Form eines 3. Aktes. Auch Baur meint, Mozart hätte nicht gewusst, wie es weitergehen soll (S. 161). In zwei brieflichen Äußerungen Mozarts (aus München, 18.01.1781, und aus Wien, 18.04.1781, wo er vorhatte, sie aufführen zu lassen), bezeichnete Mozart seine („Schachtners“) Zaïde als „Operette“, die nicht komisch sei. (Eine Operette war damals eine kleine Oper, ein Ein- oder Zweiakter eher komischen Charakters.) Dass Mozart seiner Zaïde ihren tragischen Schluss am Ende des 2. Aktes belassen wollte, die ernste kleine Oper damit komplett gewesen sein könnte und nun Ohnmacht, Verzweiflung und der unerbittliche Gewaltakt des muslimischen Herrschers (wie in dem Parallelstück Zaïre von Voltaire) am bitteren Ende stehen, wäre mindestens ebenso plausibel wie die ständige Behauptung, dieser Operette fehle ein 3. Akt mit happy ending. Denn ein solcher 3. Akt hätte sie dann wohl zu mehr als einer „Operette“ gemacht.
Auf 128 Seiten sind die zum Teil sehr ausführlichen und brisanten Anmerkungen als Endnoten aus dem Fließtext herausgenommen, was zweierlei Arten der Lektüre zulässt, für die zweite (die mit ständigem Nachschlagen der Anmerkungen) ist dem mit erläuterten Kapitelvignetten ausgestattetem Buch ein Lesefaden beigebunden worden. Literaturverzeichnis und Personenregister machen den Horizont dieser Biografie deutlich.
Peter Sühring
Berlin, 01.08.2014