Frisius, Rudolf: Karlheinz Stockhausen. III: Die Werkzyklen 1977–2007. – Mainz: Schott, 2013 [! erschienen: 2014]. – 656 S.: Notenbeisp., s/w-Abb.
ISBN 978-3-7957-0772-9 : € 49,95 (geb.)
Die Beschäftigung mit den theoretischen und analytischen Aspekten von Musik nach 1950 stellt bekanntermaßen eine große Herausforderung für Musikliebhaber und selbst für Musikwissenschaftler dar. Die Auseinander-setzung mit einem über Jahrzehnte in Arbeit befindlichen seriellen Werkzyklus erfordert zusätzlich Kenntnisse der zugrundeliegenden kompositorischen Pläne und ihrer sukzessiven Modifikationen, wie sie unvermeidlich im Lauf der Zeit auftreten. Dies gilt in noch gesteigertem Maße für Stockhausens Komposition Licht. Die sieben Tage der Woche (1977–2004), die sich als eine Art Oper in sieben Abenden (benannt nach den einzelnen Wochentagen Montag bis Sonntag) begreifen lässt. Eine umfassende analytische Behandlung dieses Opus magnum stand bislang aus, nicht zuletzt, da ein wesentlicher Teil – der Mittwoch – erst im August 2012 in Birmingham szenisch uraufgeführt und dadurch in seiner integralen Konzeption nachvollziehbar wurde. Auch die intensive Befassung mit dem nach Abschluss von Licht von Stockhausen begonnenen und unvollendet gebliebenen Zyklus Klang. Die 24 Stunden des Tages gehörte bislang zu den Desideraten der Stockhausen-Forschung, wenn auch hier die Komplexität der Anlage wie der Ausführung nicht an die von Licht heranreichen.
Der vorliegende Band schließt diese Lücke. Der Musikwissenschaftler und Stockhausen-Forscher Rudolf Frisius legt mit dieser überaus kenntnis- wie umfangreichen Monographie zu den beiden Zyklen eine monumentale Studie zu ihren kompositionstheoretischen und -technischen Aspekten vor, die seine dreibändige Untersuchung zu Stockhausens Denken und Schaffen abrundet (Bd. I: Einführung in das Gesamtwerk. Gespräche; Bd. II: Die Werke 1950–1977). Zahlreiche informative Diagramme und Notenbeispiele veranschaulichen das Gerüst, die Baupläne sowie die analytischen Details der daraus hervorgehenden Werke, die Texte nehmen ausführlich auf Stockhausens musikalisches Denken Bezug und lassen die Zusammenhänge von Stockhausens kreativer Entwicklung seit den 1950er Jahren mit der ab 1977 in diesen Zyklen erfolgten intendierten Zusammenführung seiner kompositorischen Techniken deutlich hervortreten. Wer einmal versucht hat, die in Licht zugrundeliegende sogenannte „Superformel“ mit den musikalischen Details der einzelnen Werkteile zu verknüpfen, ahnt, welche Komplexität und welch analytischer Reichtum sich hinter Stockhausens Komponieren und Denken verbergen – umso mehr verblüfft diesbezüglich der stupende Kenntnisreichtum in Frisius’ Arbeit.
Verblüffend ist jedoch auch die gänzliche Ausblendung des quasi-narrativen Hintergrunds im Licht-Zyklus. An keiner Stelle des Bandes wird deutlich, dass dem siebenteiligen Werk eine Art Libretto, ein inhaltlicher Entwurf zugrunde liegt, der die Verknüpfung der Komposition mit der Semantik der Wochentage begründet. Die Protagonisten Michael, Eva und Luzifer, ihre realen wie symbolischen Rollen, ihre jeweils unterschiedlichen Konstellationen in Montag bis Sonntag sowie die damit verknüpften Themen bleiben im Dunkeln. Die zahlreichen und von Stockhausen nie bestrittenen Anknüpfungspunkte an das Urantia Book (Chicago 1955), das den Komponisten ab ca. 1974 nachhaltig beeindruckt hat – so obskur dieser Text Frisius auch erscheinen mag –, werden nicht einmal nur verschämt gestreift, sondern in einem einzigen knappen Satz heruntergespielt (S. 101), so dass dem unbefangenen Leser der Charakter des Zyklus als Schöpfungsmythos mit der Theodizee-Frage als zentralem Element entgehen muss (wie verheerend sich das Ausblenden dieses Subtextes auswirkt, lässt sich an dem Skandal um Stockhausens Hamburger Äußerungen zum Terroranschlag vom 11. September 2001 erkennen). Frisius’ Desinformation („[w]esentlich schwieriger zu beantworten ist […] die Frage, wie sich die hier zu berücksichtigenden musikbezogenen Aspekte zu Stockhausens inhaltlicher Orientierung an MICHAEL, EVA und LUZIFER verhalten“; S. 101) ist umso schwerwiegender, als in Licht viele der von ihm so präzise aufgezeigten strukturellen Aspekte – wie schon in Kreuzspiel – immer auch mit Blick auf ihr symbolisches Bedeuten entworfen wurden. Alleine schon die Komposition der dreistimmigen, dreiminütigen „Superformel“, deren Details durch Stockhausens Rekurs auf Zahlensymbolik, Figurenlehre und Etymologie der Intervallbezeichnungen auf die zentralen Momente des Zyklus sowie der Protagonisten verweisen, ist in ihrer Vielschichtigkeit, Semantik und Anbindung an die zugrundeliegende Darstellung der Thematik innerhalb des Urantia Book durch eine lediglich musikimmanente Herangehensweise nicht nachzuvollziehen.
Dass zudem gerade dieses – trotz aller Kritik – wichtige Buch ohne Fussnoten mit Belegen und weiterführenden Hinweisen, ohne Bibliographie (zumindest der grundlegenden Sekundärliteratur), und sogar (horribile dictu) ohne Register erscheint, soll ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. Zudem war offenkundig Autor und Verlag nicht ganz klar, an wen sich dieser Band richten soll: Für die Stockhausen-Forschung auf der einen Seite sind viele der (häufig sich auch wiederholenden) Ausführungen schlichtweg redundant, da sie oftmals eher einführenden Charakters sind und Informationen aus Stockhausens publizierten Texte-Bänden (vgl. Rezension), CD-Booklets und Partituren rekapitulieren. Auf der anderen Seite dürfte für den Leser, der einen Zugang zu der faszinierenden Welt dieser Werkkomplexe sucht, die weitgehend unverbundene Nebeneinanderstellung der grafischen Veranschaulichung von Analyseergebnissen und der sprachlichen Erläuterungen sowie das Fehlen jeglicher didaktischen Strategie eine wohl unüberwindbare Hürde darstellen. Trotzdem ist zu hoffen, dass ungeachtet der angesprochenen Mängel sich viele Leser mit Hilfe dieses Buches an die Auseinandersetzung mit Stockhausens beiden Zyklen machen. Es lohnt sich!
Markus Bandur
Berlin, 06.08.2014