Karlheinz Stockhausen. Texte zur Musik / Hrsg. von Imke Misch. 1991–1998 (Bd. 11–14); 1998–2007 (Bd. 15–17). – Kürten: Stockhausen, 2014. – 7 Bände: XIV, 448 S.; VIII, 426 S.; VIII, 486 S.; X, 496 S.; XII, 501; X, 565 S.; X, 545 S.: jeweils mit Notenbeisp., Abb., Register u. Werkverzeichnis.
ISBN 978-3-9815317-1-8, …-2-5, …-3-2, …-4-9, …-5-6, …-6-3, …-7-0 : je € 50,00 (geb.)
Stockhausens ,Texte-Bände‘, wie sie von ihren Lesern salopp genannt werden, sind legendär. Keiner, der sich mit der Musik nach 1950 befasst, kommt an ihrer Lektüre vorbei. Insbesondere die frühen Sammlungen seiner Schriften – Band 1 und 2 mit Texten von 1952 bis 1962, Band 3 (1963–70) und Band 4 (1970–77) – sind bis heute unumgängliche Verständnishilfen für die Umwälzungen des Musikbegriffs, die sich in den 1950er und 60er Jahren ereignet haben. Die anschließenden Publikationen (Bände 5 und 6 zu den Jahren 1977–84 und die Bände 7–11 zur Zeit zwischen 1984 und 1991) veränderten sich in dem Maße, wie Stockhausen seit Mitte der 1970er Jahr dazu überging, mit der Schaffung des integralen Werkzyklus LICHT. Die sieben Tage der Woche seine zahlreichen kompositionstechnischen und musikästhetischen Errungenschaften – seien es nun Erfindungen oder Entdeckungen – zu konsolidieren und zusammenzuführen. Stockhausens Impuls insbesondere der 1950er Jahre, diese Erweiterungen des musikalischen Denkens auch theoretisch zu legitimieren, trat konsequenterweise zurück. An die Stelle der problemreflexiven Texte rückten umfangreiche Erläuterungen zu den komplexen Inhalten von LICHT sowie zunehmend umfassendere Bemühungen um eine Kontrolle der Aufführungspraxis und eine stärkere Dokumentation der Produktion – dies umso mehr, als Stockhausen mit der Gründung seines eigenen Verlags und seiner eigenen Schallplattenfirma nun die Möglichkeiten hatte, noch weitaus stärker als bislang auf die Gestaltung seiner Werke Einfluss zu nehmen.
Auch in den neuen sieben Bänden (Bd. 11–17), die Texte Stockhausens aus der Zeit von 1998 bis in sein Todesjahr 2007 versammeln, nehmen die Wiederabdrucke von Stockhausens Partiturvorworten und Booklet-Texten einen breiten Raum ein, führen durch die lückenlose Dokumentation der kompositorischen Arbeit auch manches Mal zu Wiederholungen. Dass sie die – buchtechnisch übrigens sorgfältig und hochwertig gestalteten – Bände nicht dominieren, liegt an der geschickten Kombination dieser Vorworte und Werkeinführungen mit anderen Textsorten, wie Briefen oder Briefwechseln, Interviews, Vorträgen sowie anderen Dokumenten.
Die von Imke Misch souverän und kenntnisreich edierten Bände sind chronologisch angelegt: Band 11 versammelt Nachträge aller Art zu Werken von 1951 bis 1998; Band 12 konzentriert sich auf Texte zu FREITAG aus LICHT (1991–94) und kombiniert die hier umfänglich wiedergegeben Partiturvorworte mit einem Abschnitt „Neue Konzertpraxis“, der zahlreiche Äußerungen Stockhausens zu aufführungspraktischen Fragen zusammenstellt; Band 13 umfasst die zu MITTWOCH aus LICHT (1995–97) gehörenden Texte und stellt diesen den thematischen Block „Elektronische Musik“ zur Seite. Band 14, der an anderer Stelle separat besprochen wird, verlässt die an Stockhausens Kompositionsarbeit chronologisch ausgerichtete Ordnung und konzentriert sich gleichsam als Mittelachse der sieben Bände ausschließlich auf umfangreiche Interviews zu grundlegenden Fragen der Komposition und Ästhetik, auf Meinungsäußerungen sowie auf Beiläufigeres, wie etwa auf die Beantwortung von Zeitungs- und Zeitschriftenumfragen. Mit Band 15 dann ist die Zeit der Komposition des SONNTAGS (1998–2003) erreicht, zugleich gibt es Raum, um in einem eigenen Abschnitt die Texte zu den Stockhausen-Kursen in Kürten zu dokumentieren, die die pädagogischen Intentionen des Komponisten aufscheinen lassen. Band 16 beginnt mit einem Rückblick auf LICHT nach Abschluss des Zyklus und enthält mit vielen kleineren Dokumenten anlässlich von Preisverleihungen, Umfragen zahlreiche eher persönlich gefärbte Äußerungen aus dieser Zeit. Der Band 17 schließlich stellt Stockhausens Texte zu seinem unvollendeten Spätwerk KLANG zusammen, lässt aber noch Platz für viele andere, Schaffen wie Biographie erhellende Dokumente aus dieser letzten Schaffensphase.
Wer sollte diese 3.500 Seiten lesen? Für wen lohnt sich die Lektüre? Für die Stockhausen-Adepten, die Fans, Experten und Liebhaber ist die Anschaffung dieser Bände Pflicht. Was ist mit den anderen an Musik Interessierten, die bisher vor dem Namen Stockhausen zurückzuckten, da damit unangenehme Erinnerungen an einen Komponisten verbunden sind, der behauptete, vom Sirius zu stammen, und der – so das öffentliche Vorurteil – den Anschlag auf das World Trade Center vom 11. September 2001 mit dermaßen kruden Kommentaren begleitete, dass langjährige Schüler, Freunde und Familienmitglieder glaubten, sich von ihm lossagen zu müssen? (Das fragliche und meist nur verkürzt zitierte Pressegespräch vom 16. September 2001 findet sich übrigens vollständig wiedergegeben in Bd. 17, S. 209–233, die Stellungnahme von Wolfgang Rihm sowie Stockhausens aufschlussreicher Antwortbrief folgen daran anschließend).
Auch wenn Werke, für deren Verständnis das Studium von Begleittexten empfohlen werden, leicht in den Ruf geraten, missglückt zu sein, seien die Bände (auch die vorangegangenen) gerade denjenigen Hörern nahegelegt, die sich von Stockhausens Musik überfordert fühlen. Denn wer nicht noch Jahrzehnte warten will, bis sich das allgemeine Hörverhalten an die Vielschichtigkeit und den Reichtum von Stockhausens Werken angepasst hat, kann durch die Lektüre dieser Schriften in der Tat das eigene Hören und Verstehen befördern. In den Texte-Bänden artikuliert sich kein ,Egomane‘, kein ,Mystiker‘ oder gar ,Spinner‘ – man muss es leider angesichts der Ignoranz des öffentlichen Musiklebens immer wieder betonen; vielmehr entdeckt der Leser einen vielseitig interessierten, überaus aufgeschlossenen und musikalisch ungemein tiefsinnigen Menschen, dessen Denken neugierig macht auf die Kompositionen, für die er so kompromisslos lebte.
Markus Bandur
Berlin, 06.06.2014