Karlheinz Stockhausen. Über Musik, Kunst, Gott und die Welt – Blickwinkel – Komponistenalltag / Hrsg. von Imke Misch. – Kürten: Stockhausen, 2014. – X, 496 S.: Notenbeisp., Abb., Register (Texte zur Musik 1991–1998 ; 14)
ISBN 978-3-9815317-4-9 : € 50,00 (geb.)
Innerhalb der neu erschienenen sieben Bänden mit ausgewählten Texten aus den Jahren 1991–1998 (Bd. 11–14) und 1998–2007 (Bd. 15–17), die die bisherige zehnbändige Sammlung von Stockhausens Schriften bis in sein Todesjahr hinein weiterführen (vgl. die Rezension), fällt der Band 14 auf: Gleichsam als ,Achse‘ der siebenteiligen Folge enthält er umfangreiche Interviews, Texte, Lebenszeugnisse und Dokumente, die sich allgemeinen Themen, Grundsätzlichem und manchmal auch vermeintlich Abgelegenem zuwenden.
Man muss kein Stockhausen-Experte oder Liebhaber seiner Musik sein, um an dem von Imke Misch sorgfältig edierten und vom Stockhausen-Verlag mit Fotos und Abbildungen überaus reichhaltig ausgestatteten Band seine Freude zu haben und ihn mit Gewinn zu lesen. Die Lektüre erinnert so manches Mal an beeindruckende Reiseziele, die man am liebsten niemandem verraten möchte, damit sie nicht vom schnöden Tourismus zerstört werden. Denn klar ist: Auch in diesem Band verleugnet Stockhausen nicht seine häufig kritisierten zentralen Auffassungen über die fundamentale Bedeutung der Musik, über deren Funktion als geistig-geistliches Mittel zur Erweiterung des menschlichen Bewusstseins, über seine eigene Rolle als bloßes – wenn auch überaus produktives – Medium. Und auch hier wird deutlich, wie stark die heutige Vorstellung unserer Gesellschaft über das, was Kunst – und besonders Musik – ist und sein soll, hinter Stockhausens Denken zurückfällt.
Der erste, mit über 300 Seiten umfassendste Teil der Sammlung versammelt Interviews und Gespräche, die sich – wie die Überschrift der Herausgeberin pointiert zusammenfasst – „Musik, Kunst, Gott und die Welt“ als Themen vornehmen. Ein zweiter Teil („Blickwinkel“) stellt kleinere Texte und Umfragen Stockhausens zusammen, während der dritte Abschnitt („Komponistenalltag“) Umfragen, Reden bei ausgewählten Anlässen wie Preisverleihungen und Korrespondenzen umfasst. Auch wenn die Liebhaber des Biographischen dabei auf ihre Kosten kommen dürften, zielt die sorgfältige Auswahl der Texte jedoch immer auf substantielle Aussagen, auf pointierte Äußerungen zu Werk und – für Stockhausen untrennbar damit verknüpft – Leben.
Bislang hat die institutionelle Musikwissenschaft von Stockhausens Texten kaum Notiz genommen, zu weit sind die Auffassungen über Wesen und Funktion der Musik voneinander entfernt, als dass von der Musikforschung derzeit viel mehr als nur höfliche Herablassung gegenüber Stockhausens Musikkonzept zu erwarten ist. Gleichwohl wäre dieser Band in seiner Konzentration auf werkübergreifende, die Musik auch im Allgemeinen thematisierende Texte Stockhausens ein guter Anlass, um über die Bedeutung der Musik und ihrer Geschichte für das 21. Jahrhundert neu nachzudenken, sich endgültig von den romantisierenden Märchenstunden zu verabschieden, die die geschichtliche Entwicklung des Musikalischen als eine Reihenfolge ,schöner Werke‘ von ,großen Komponisten‘ darstellen. Im Blick auf eine neue – gleichsam nüchterne – Sichtweise der europäischen Musikgeschichte als einer „inhärenten historischen Evolution“, bei der es „gleichgültig [ist,] ob Strawinsky oder Orff oder Stockhausen mitmacht“ (S. 36), wird dieser Band Ohren und Augen öffnen.
Markus Bandur
Berlin, 06.06.2014