Der Gottesdienst und seine Musik. Bd. 1 Grundlegung und Hymnologie / Hrsg. von Albert Gerhards und Matthias Schneider – Laaber: Laaber, 2014. – 344 S.: 57 s/w Abb., 12 Notenbsp. (Enzyklopädie der Kirchenmusik ; 4.1)
ISBN 978-3-89007-783-3 : € 128,00 (geb.)
Die von Matthias Schneider, Wolfgang Bretschneider und Günther Massenkeil herausgegebene Enzyklopädie der Kirchenmusik wächst erfreulich: Auf sechs Bände angelegt, ist nach Band 1 in 4 Bänden: Geschichte der Kirchenmusik (der 4. Teilband steht noch aus), Band 2: Zentren der Kirchenmusik, Band 6 in 2 Bänden: Lexikon der Kirchenmusik, nun der erste Teilband von Band 4 Der Gottesdienst und seine Musik erschienen. Achtzehn Autoren, Theologen, Musik- und Liturgiewissenschaftler, Kantoren, Hymnologen, Kirchenlied- und Gesangbuchforscher widmen sich in zwei groß angelegten Kapiteln dem übergeordneten Thema. In neun Einzelbeiträgen werden in der Grundlegung: Der Raum und die Instrumente sowie Theologische Ansätze erörtert; danach setzen sich unter der Generalüberschrift Hymnologie elf Autoren mit den Gesängen im Gottesdienst vor allem in den zwei großen christlichen Konfessionen auseinander. Beiden Kapiteln ist eine Einleitung vorangestellt, in der die Herausgeber Albert Gerhards und Matthias Schneider das Ziel der vorliegenden Veröffentlichung darlegen: Im Laufe der zweitausendjährigen Geschichte des christlichen Gottesdienstes haben sich „das Verständnis von Liturgie, von liturgischer Gestaltung und von einer der Liturgie angemessenen Musik immer wieder grundlegend gewandelt.“ Dementsprechend wird die Geschichte der gottesdienstlichen Musik in den beiden großen christlichen Konfessionen von ihren Anfängen bis in die Gegenwart dargelegt, werden die unterschiedlichen Erscheinungsformen dokumentiert und der aktuelle Stand mitgeteilt. Gewichtige und bereits vorliegende, für die aktuelle Forschung relevante Arbeiten sind mit Angabe von Autor, Titel, Erscheinungsort und –jahr genannt und kommentiert. Obwohl es zahlreiche Veröffentlichungen zu einzelnen fachspezifischen Fragestellungen gibt, sind umfassende Darstellungen rar: Kirchenmusikalische und liturgiegeschichtliche Perspektiven werden kaum miteinander verschränkt, entsprechend neue, andere Fragen selten gestellt. Erfreulicherweise, so die Herausgeber, zeigt sich jedoch in jüngster Zeit, dass in den einzelnen Fachwissenschaften die Grenzen zunehmend übersprungen werden. Dadurch ergeben sich interdisziplinäre Fragen, deren Beantwortung hier versucht wird, auch hinsichtlich ihrer ökumenischen Perspektive. Diesem Ziel nähern sich die Autoren des vorliegenden Bandes – in der Grundlegung genauso wie in der Hymnologie – von unterschiedlichen Seiten.
Der Historische Überblick, der den Zeitraum vom Frühchristentum bis zur Gegenwart umfasst und der die im Laufe der 2000 Jahre unterschiedlichen theologischen “Gesetze” und liturgischen Projekte einbezieht, legt gleichsam das Fundament für die nachfolgenden acht Aufsätze. Orte der Kirchenmusik als Ergebnisse der Wechselbeziehung zwischen Architektur und liturgisch-musikalischen Erfordernissen werden diskutiert, auch in ihren im Laufe der Jahrhunderte wechselnden politischen und gesellschaftlichen Funktionen. Ob die menschliche Stimme im Gottesdienst, ob Posaunenchor, kirchliche Bands, die „Wundermaschine“ Orgel (S. 93) oder Die Glocke – Die Stimme Gottes (hochinteressant! Und mit dem letzten Satz ungemein aktuell: „Möge im friedlichen gesellschaftlichen Konsens das Läuten der Kirchenglocken erhalten bleiben.“ S. 111) – jeder der Beiträge bringt neben Fakten und unterschiedlichen Programmkonzepten auch anstehende Probleme zur Sprache. Der Katholische Ansatz einer Theologie der Kirchenmusik und der Evangelische Ansatz einer Theologie der Kirchenmusik beschließen das Kapitel Grundlegung – und werfen zugleich zahlreiche Fragen auf: Gibt es überhaupt eine Theologie der Kirchenmusik? Und wenn ja, betrifft diese Theologie alle Kirchenmusik, vielleicht sogar alle Musik? Im Beitrag zum Evangelischen Ansatz kommt beim kurzen historischen Überblick im 20. Jahrhundert die Kirchenmusik in der Zeit des Nationalsozialismus zu kurz. Was zum Beispiel wurde nach 1933 unter „verantwortlicher Zeitgenossenschaft“ (Corinna Dahlgrün, S. 130) verstanden? Es ist das Verdienst aller Autoren, diese und andere Fragen gestellt und so auf bestehende Defizite in der Forschung verwiesen zu haben.
Im zweiten übergeordneten Kapitel Hymnologie widmen sich elf Autoren den unterschiedlichen Gesängen des Gottesdienstes im Laufe der 2000jährigen Geschichte des Christentums. Von der Gregorianik: Dem Kernrepertoire bis zum Singen im 20. Jahrhundert wird das Verhältnis von Gesang und Konfession diskutiert, das Gemeinsame und das je Besondere herausgearbeitet und regionale Eigenheiten referiert. Das Kapitel Hymnologie wird mit einem Beitrag zum Singen im 20. Jahrhundert beendet. Ob Wandervogel oder Singebewegung, liturgische Erneuerungsbewegung nach dem 1. Weltkrieg, Orgelbewegung und Fritz Jödes Bemühungen um eine Demokratisierung des Musiklebens, ob die Affinität zum Nationalsozialismus durch „nationale Töne“ (S. 297) oder die Entwicklung nach 1945 – alles wird kurz beschrieben und theologisch-liturgisch, aber auch historisch eingeordnet. Leider werden die Situation der Kirchen in der DDR und die dort ja durchaus nicht unwesentliche Rolle der Kirchenmusik so gut wie ausgeklammert. Denn dass „die Gründung der deutschen Republiken […] die Generationen (beflügelte)“, trifft wohl nur auf die Bundesrepublik zu. Neben dem EKG, dem Evangelischen Kirchengesangbuch, dem „ersten gemeinsamen Gesangbuch aller Landeskirchen in Ost- und Westdeutschland, für Österreich und für die deutschen Sprachinseln auf der ganzen Welt“ (S. 299), sowie dem Gotteslob der Katholiken und dem Singen in der ökumenischen Bewegung Taizé werden die wichtigsten freikirchlichen Liedsammlungen, Gesang- und Liederbücher (S. 309) aufgelistet. „Der Pluralismus und Individualismus der gesellschaftlichen Entwicklung“, so Christian Finke, „spiegelt sich in den Ideen und Versuchen, neue Konzepte für ein zeitgemäßes Singen zu etablieren.“ Einige von ihnen werden in diesem 1. Teilband von Der Gottesdienst und seine Musik vorgestellt und diskutiert.
So erfreulich es ist, dass der Band reich bebildert ist, so inakzeptabel ist zum Teil die Wiedergabe der Gemälde, Fotos, Faksimile, Noten. Mal sind die Abbildungen kaum zu entziffern, sind grau und sehr schwach im Druck (z. B. S. 132), dann wieder gestochen klar (z. B. S. 159). Die Anmerkungen mit u.a. speziellen Literaturhinweisen sind erfreulicherweise auf den entsprechenden Seiten platziert. Allerdings hat man (der Hersteller?, der Korrektor?) im Eifer des Gefechts vergessen, statt des Hinweises auf S. xy (u.a. Anm. 1, S. 22) eine konkrete Seitenzahl anzugeben; außerdem wird auf einen Aufsatz „in diesem Band“ (S. 23, Anm. 1) verwiesen, den man hier leider vergeblich sucht. Im Anhang gibt es ein Abkürzungs-, Literatur- und Abbildungsverzeichnis, ferner ein Personen- und ein Sachregister. Auch werden alle 18 Autoren mit einer Kurzbiographie vorgestellt.
Ingeborg Allihn
Berlin, 22.05.2014