Kaiserkern, Babette: Luigi Boccherini. Leben und Werk. Musica amorosa – Wiesbaden: Weimarer Verlagsgesellschaft, 2014. –288 S.: Abb., 14 Tafeln
ISBN 978-3-7374-0213-2 : € 28,00 (geb.)
Endlich! – könnte man ausrufen, angesichts der Tatsache, dass es (bis auf eine kleine Broschüre von Hans Michael Schletterer im Rahmen der Sammlung musikalischer Vorträge aus dem Jahr 1882 und einiger Lexikonartikel) in Deutschland und aus Deutschland (und überhaupt auf Deutsch) bisher keine fundierte Gesamtdarstellung von Leben und Werk eines der originellsten europäischen Komponisten des 18. Jahrhunderts gab. Nun ist aus dieser Wüste mit einem Mal eine belebte Landschaft geworden, in der man sich wohlunterrichtet gut zurechtfinden kann und sich im nächsten Schritt etliche Hörgenüsse zugutekommen lassen könnte, würde Luigi Boccherini wenigstens ab und zu einmal in deutschen Konzertsälen zu Gehör gebracht. Da dies nicht der Fall ist, wird man sich auf die international gesehen nicht geringe Menge diskografischer Einspielungen werfen müssen. Dieser wahrlich späte erste Versuch einer ausführlichen Vorstellung des Komponisten in Deutschland kommt immerhin spät genug, um ein deutliches Echo zu geben auf die großen Fortschritte, welche die nichtdeutsche Boccherini-Forschung gerade in den letzten Jahren gemacht hat. Alle neuen Erkenntnisse sind hier mit verarbeitet und man erhält dadurch ein aktuelles, korrigiertes, um einige Legenden ärmeres Boccherini-Bild, das noch im ausgehenden 20. Jahrhundert so nicht möglich gewesen wäre. Die Autorin hat nicht nur eine ihren Gegenstand liebende intime Kenntnis des enorm vielfältigen und reichen Gesamtwerks von Boccherini, sondern hat als Philologin, die sie hauptsächlich ist, auch alle wichtigen Sekundärquellen in ihren Originalsprachen studiert und breitet sie wenn nötig in ihrem Buch zitatweise in eigenen Übersetzungen aus.
Das Buch ist nicht für Musikwissenschaftler geschrieben, könnte diese aber ob ihrer bisherigen Ignoranz und Arroganz beschämen. Denn die Tatsache, dass Boccherini bis auf eines seiner Menuette (das nur für eine bestimmte Seite seines Charakters typisch ist) und eines Fandangos nahezu unbekannt ist, liegt nicht nur in einem sonderbaren kollektiven Musikgeschmack der Deutschen begründet, sondern ist auch einer Qualitätspropaganda der deutschen Musikgeschichtsschreibung geschuldet. Die von ihr seit Jahrzehnten etablierten Normenkontrollverfahren, die sich immer noch autoritär und schulmeisterlich an den Normen der so genannten Klassik, genauer gesagt eines angeblichen Wiener Musters der Sonatenform festklammern, haben für die von Boccherini geschaffenen musikalisch-kompositorischen Sachverhalte keine Kriterien, keine Beschreibungsmöglichkeiten und kein Urteilsvermögen. Boccherini fällt schlicht und einfach durch das Gitter ihrer dialektisch-idealistischen Begriffsmaschinerie. Die deutsche Musikwissenschaft müsste sich nach annähernd 200 Jahren endlich eine andere neuere Terminologie zulegen als die von Adolph Bernhard Marx, um ein Phänomen wie Boccherini überhaupt fassen zu können. Die von Kaiserkern gebotenen umfangreichen (durchaus in einem unkonventionellen Sinn auch) analytischen Werkbeschreibungen des gesamten Korpus der Kammermusik Boccherinis in all seinen Gattungen vom Duett über das Trio, das Quartett, das Quintett bis zum Sextett bieten eine Menge Bausteine für eine solche neue Terminologie. Sie ist von den Normen einer fiktiven „Wiener Klassik“, an denen sich die Autorin ständig reibt, weit entfernt. Leider hat die Autorin nicht den Mut, zugunsten der drei Wiener Herren, die traditionell diese Klassik bilden sollen, zu intervenieren und generell in Zweifel zu ziehen, ob es die Klassik als Epoche oder eine Wiener Klassik als regional begründete, aber für „objektiv verbindlich“ gehaltene Norm (von Haydn, Mozart und Beethoven her gesehen) überhaupt gibt. Denn auch jeder Einzelne dieses angeblichen Dreimännerkollegiums hätte eine spezifische Beschreibung seines jeweils eigenen und besonderen Stils jenseits solcher nachträglich von bürokratischen Musikverwaltern konstruierte Normen dringend verdient und würde die Gegenüberstellung: hier Wiener Klassik, dort der eigensinnige Boccherini, hinfällig machen.
Im Gegensatz zum metaphysisch überhöhten Entwicklungsschema einer fiktiven Wiener Sonatenform beschreibt Kaiserkern Boccherinis Formgebungen als facettenartig und kaleidoskopisch. Sie benutzt besonders die von Boccherini selbst favorisierten Titel, Etikette und Vortragsbezeichnungen, speziell gibt sie Erläuterungen zu amoroso und smorfiosa, um die teils lieblichen, teils melancholisch-leidenschaftlichen musikalischen Ausdrucksnuancen Boccherinis zu charakterisieren. Fraglich ist, ob alle von Kaiserkern gefundenen Beschreibungskriterien, wie beispielsweise „parataktische“ oder „additive“ Themenvorstellung, zutreffend oder ausreichend sind, trotzdem entspricht die Autorin jenem Ideal, das sich Boccherini selber von seinen musikpraktischen Interpreten, von den seine Werke ausführenden Musikern gemacht hatte: „jene müssen dem Autoren sehr nahe sein; dann müssen sie alles das, was jener notiert hat, im Herzen fühlen, vereinigen, probieren, erforschen, schließlich den Geist des Autor studieren,…“ (Brief Boccherinis vom 08.07.1799 an Marie-Joseph Chénier, zitiert auf S. 222) …, um in sein Werk einführen zu können, so wäre zu ergänzen. Das hat mit eitler Einfühlung nichts zu tun, sondern eher mit einer Vereinigung von analytischem Verstand und Nachempfindung, mit einer von Goethe für empfehlenswert gehaltenen Anverwandlung des Forschers an den Gegenstand seiner Untersuchung durch „zarte Empirie“. Die Autorin beschreibt die vielfältigen Methoden Boccherinis, mit möglichen Sonatenformen umzugehen, Themen zu modifizieren und zu verwandeln, zu „verschlingen“, wie Boccherini sagte. Und sie lässt auch Boccherinis Orchester- und Vokalwerke, darunter zwei spanische Singspiele (Zarzuelas), zwei Oratorien, Psalmvertonungen, eine Weihnachtskantate, mehrere Konzertarien und besonders die beiden Versionen seiner Vertonung des Stabat mater, von der sie zu Recht sagt, es stelle eine Art Summe der Kompositionsweise und Ausdruckskraft Boccherinis dar, nicht unberücksichtigt.
Die Lebensstationen Boccherinis in Lucca, Wien, Paris und schließlich Madrid werden orts- und zeitkundig dargestellt, kleinere Porträts der wichtigsten Auftraggeber und Partner Boccherinis (darunter ein recht sympathisches, einige Vorurteile beseitigendes von Friedrich Wilhelm II. von Preußen, dem Violoncello spielenden König, bei dem Boccherini in ständiger Abwesenheit Kammerkompositeur war) ergeben das Gerüst das Buches, in das die Werkgeschichte mitsamt den Werkbeschreibungen getrennt nach Gattungen, auch wenn die Werke über die die Beschreibung auslösende Periode zeitlich hinausgehen, eingelassen sind. Auch die wenigen, hauptsächlich geschäftsmäßigen Briefe Boccherinis sind berücksichtigt. Durch aufmerksam herausdestillierte Zitate gelingt es Kaiserkern, aus ihnen eine eigene musikalische Poetik Boccherinis zu gewinnen, deren Bildungshorizont von ihr als in der Antike verankert geschildert wird. Der Stil des Buches ist selbst von der Musik Boccherinis atmosphärisch affiziert. Die Autorin ist sichtlich um schöne, anmutige, würdige und treffende Formulierungen bemüht, was manchmal, aber selten, auch missglückt. Sachliche Fehler ließen sich bei der dichten Recherchearbeit der Autorin kaum feststellen. Zweifelhaft ist, ob die Vermutung stimmt, das von Boccherini besessene Violoncello piccolo sei jenes gewesen, das er nach Auskunft von Sophie Gail gegen Lebensende noch bei sich und das bei „drei fehlenden Saiten“ (S. 15) nur noch eine aufgespannt gehabt haben soll, denn ein Violoncello piccolo wäre wohl fünfsaitig.
Das Buch ist angenehm lesbar in 40 kürzere Kapitel eingeteilt, auf die sich die Aspekte von Leben und Werk sinnvoll chronologisch-systematisch verteilen. Die 146 Anmerkungen sind als Endnoten nicht immer simultan zu den Kapitelüberschriften sortiert. Es gibt eine zweiseitige Zeittafel, ein Quellen- und Literaturverzeichnis, in das die erwähnte Literatur nicht vollständig aufgenommen ist, ein erweitertes, ursprünglich von Boccherini selbst aufgesetztes Werkverzeichnis (seltsamerweise fehlten dort seine Sonaten und Konzerte für Violoncello) und ein Personen- und Ortsregister. Das Buch könnte für eine evtl. 2. Auflage, die ihm dringend zu wünschen ist, eine weitere Korrekturlese-Runde vertragen, eine Liste der Tipp- oder Druckfehler, an denen nicht immer ablesbar ist, ob sie auf das Konto der Druckvorlage oder des Satzes gehen (darunter auch falsche Jahreszahlen, die aber von jedem verständigen Leser schnell korrigiert werden können), würde ziemlich lang ausfallen. Fremdzitate, auch als Teile von Sätzen, nur durch Kursivierungen anzuzeigen, ist an sich keine schlechte Methode, müsste dann aber absolut fehlerfrei eingehalten werden, um Missverständnisse zu vermeiden. Eine aktuelle Diskografie mit Empfehlungen wäre sehr hilfreich. Trotz dieser kaum ins Gewicht fallenden äußerlich-formalen Mängel ist das Buch ein regelrechter Durchbruch für die Rehabilitation Boccherinis in deutschen Ohren, die auch von der musikwissenschaftlichen Zunft zu einem Überdenken ihrer Standpunkte genutzt werden sollte.
Peter Sühring
Berlin, 28.07.2014