Jacobs, René: Ich will Musik neu erzählen / René Jacobs im Gespräch mit Silke Leopold – Kassel: Bärenreiter u. Henschel: Leipzig, 2013. – 223 S.: s/w-Abb., Personenreg.
ISBN 978-3-7618-2266-1 u. 978-3-89487-910-5 : € 24,95 (geb.)
Beim Dirigenten René Jacobs ist der Blick fast durchgehend auf die Partitur gerichtet; auch wenn es natürlich Blickkontakte zu den Mitwirkenden gibt. Nur zu verständlich: Jacobs dirigiert ja vorzugsweise rare Werke aus dem 17. und 18. Jahrhundert (heute mit dem Schwerpunkt Oper), bei welchen die musikalische Endgestalt oft erst nach langer Beschäftigung mit dem Notenmaterial festgelegt wird. Doch auch was in langen Proben definitiv geklärt wird, muss immer neu und exakt an die Interpreten weiter gegeben werden, und das steht in der Partitur. Bei Jacobs’ Dirigieren spürt man den ehemaligen Vokalisten. Trotz relativ stereotyper Gestik taktiert er nicht einfach, sondern stimmt sein Orchester sensibel auf vokale Verläufe in den Opern ein, sucht einen Gleichklang zwischen Sängern und Instrumentalisten herzustellen. Das gelingt natürlich am besten bei den ihm vertrauten Klangkörpern, welche alle die „historische“ Musizierpraxis im Blut haben.
Die ersten Kapitel in den Gesprächsaufzeichnungen von Silke Leopold sind dem Sänger Jacobs gewidmet. Als Knabe versuchte er sich gerne an Mozart- und Schubert-Liedern. Über Alfred Deller fand er zur Musik vorheriger Jahrhunderte. Auch sein interpretatorisches Ego wurde von dem Pionier-Counter geprägt. Irgendwann im Verlaufe seiner Sängerlaufbahn, in der er sich vom geradlinigen englischen Vokalstil mehr und mehr absetzte, kam das Dirigieren hinzu. Beide Karrieren verliefen etwa zehn Jahre lang parallel. Die Repertoire-Orientierung im neuen künstlerischen Lebensabschnitt blieb nahezu dieselbe, nur dass jetzt die Oper im Vordergrund zu stehen begann. Während René Jacobs aus Stilgründen ein „Fremdeln“ bei Counter-Sängern nicht so sehr schätzt, „leistet“ er sich als Dirigent hin und wieder Mozart (demnächst neu die Entführung) und Schubert. „Vielleicht kann ich nur ins Paradies gelangen, wenn ich Schuberts As-Dur-Messe wenigstens einmal mache“ (S. 106). Sein Faible für Gustav Mahler soll indes ein privates bleiben. Ohnehin schlägt sein Herz weiterhin ungeschwächt für das 17. und 18. Jahrhundert, wobei er am liebsten unbekannte Werke präsentiert. Sein Wunschtraum wäre ein Festival der frühen Oper.
Auf dem Gebiet der musikalischen Interpretation argumentiert René Jacobs geradezu beängstigend fundiert und vertritt auf liebenswürdige und charmante Weise strenge Prinzipien. Stil-Authentizität verficht er allerdings nicht „nach dem Buchstaben“, sondern „nach dem Sinn“ (S. 26). Bei der Zusammenarbeit mit Regisseuren akzeptiert er überdies komplementäre oder sogar konträre Sichtweisen, wenn sie auf genauer Textkenntnis beruhen (ein gutes Libretto ist für Jacobs gleichbedeutend mit Musik) und ein Stück nicht eitel und selbstgefällig verbiegen. Das Schlusskapitel des Buches über das sog. Regietheater gerät Jacobs und seiner Gesprächspartnerin besonders spannend. Alle Diskussionen sind geprägt von großer Seriosität. Da sie ohne trockenen Akademismus auskommen, bietet das inhaltsreiche Buch eine äußerst lebendige und flüssige Lektüre.
Christoph Zimmermann
Köln, 28.07.2014