Jungmann, Irmgard: Sozialgeschichte der klassischen Musik. Bildungsbürgerliche Musikanschauung im 19. und 20. Jahrhundert. – Stuttgart [u.a.]: Metzler, 2008. – 261 S.: Abb.
ISBN 978-3-476-02297-4 : € 39,95 (geb.)
Geboten wird in diesem langatmigen, fakten- und zitatreichen Buchreferat bestenfalls eine Sozialgeschichte der Rezeption dessen, was das deutsche Bildungsbürgertum (vielmehr das, was davon übrig geblieben ist) neuerdings „klassische Musik“ oder einfach nur „Klassik“ nennt oder was dem Bildungsbürger an musealem Musikkonsum zugeschrieben und zugebilligt wird. Auch die antiklassische Moderne des 20. Jahrhunderts wird, wie auch in der Begriffsverwirrung des Kulturbetriebs üblich, diesem sinnlosen Etikett einfach zugeschlagen. Um Musik, um Tonkunst, um das, was Komponisten und Musiker als Künstler bewegt, kümmert sich das Buch nicht. Die Beschränkung auf das 19. und 20. Jahrhundert ist nicht näher begründet. Allerdings konzentriert sich die Darstellung auf Musikanschauungen des deutschen Idealismus und deren Folgen bis heute. Wie die Unterscheidung zwischen E- und U-Musik ist damit ein typisch deutsches Problem benannt, hat aber selbst soziale Ursachen, denn nirgends war der Dünkel einer musikliebenden Oberschicht größer als eben in Deutschland.
Alle vom Bildungsbürgertum ausgehenden volkserzieherischen Vorstellungen gehören mit zu dieser Einbildung, dass Musik generell den Menschen veredeln könne. Ob es aber angebracht ist, wie die Autorin es für richtig hält, sozialdemokratische Reformbestrebungen in der Weimarer Zeit als Vorläufer der nationalsozialistischen Volksbeglückungskampagnen zu interpretieren, bleibe dahingestellt. Sicher sind soziale Verhältnisse vorstellbar und wünschenswert, in denen jede musikalische Begabung, ganz gleich in welcher Gesellschaftsschicht sie sich bemerkbar macht, registriert und gefördert würde. Aber was ist Musikalität? Da gäbe es interessante Abstufungen, die ihre Korrespondenz mit sozialen Klassenverhältnissen haben. Gibt es nicht, jenseits der bildungsbürgerlichen Propaganda, viele Bankertöchter oder Professorensöhne, die einen höheren nicht von einem tieferen Ton unterscheiden können, Handwerkerkinder, die sich mit Volksliedern, Schlagern oder Popsongs zufrieden geben, Arbeiter- oder Immigrantenkinder, denen bei Bach oder Beethoven das Herz aufgeht oder -ginge, wenn sie öfter die Chance hätten, deren Musik zu hören?
Dass die Ideologie vom autonomen Kunstwerk mit zum bildungsbürgerlichen Dünkel gehört, sei unbestritten, wenn man aber, musiksoziologisch betrachtet (was die Autorin vorgibt zu tun), davon ausgeht, dass Kunstwerke auch heteronom sind, also z. B. auch von gesellschaftlichen Außenverhältnissen abhängig sind, dann müsste man wohl auch über das Komponieren und einzelne Werke sprechen wollen (und können) und zeigen, wie das funktioniert. Außerdem gibt es wohl bei jeder Musik einen romantischen Mehrwert, von dem die Autorin nichts zu wissen scheint. Komponisten werden hier nur mit ihren Erklärungsnotstandstiraden zitiert und kein Musikstück wird sozialgeschichtlich beleuchtet. Die Sozialgeschichte der Autorin ist reine Ideengeschichte und eine unkritische obendrein.
Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 30 (2009), S. 364