Riepe, Juliane: Händel vor dem Fernrohr. Die Italienreise – Beeskow: ortus, 2013. – 513 S.: 161 Abb., 4 Notenbsp. (Studien der Stiftung Händel-Haus ; 1)
ISBN 978-3-937788-26-5 : € 67,00 (brosch.)
Wie die Autorin in ihrem erfreulich kurz und pointiert gehaltenen forschungskritischen Vorspann schreibt, ging es ihr nicht um „eine (wohlfeile) Demystifizierung“, sondern darum, „ein der historischen Wirklichkeit näheres oder doch jedenfalls facettenreicheres Bild“ (S. 9) zu gewinnen. Dass aber nicht nur die Populargeschichtsschreibung, sondern auch die wissenschaftliche Händel-Literatur einigen Mystifikationen unterliegt, die sich schon in der ersten biografischen Darstellung Händels von John Mainwaring (1760) finden, steht außer Zweifel. Vorliegende Forschungsleistung, mit der ihre Autorin sich 2011 habilitieren konnte, müsste noch mehr als jene von Ursula Kirkendale (1932-2013), mit der Riepe noch freundlich-kontrovers korrespondieren konnte, ein Umdenken provozieren. Die Liste der hier aufgedeckten und nebenbei und unter der Hand korrigierten Irrtümer, Täuschungen und für Tatsachen ausgegebenen Hypothesen, die sich allein auf Händels Italienreise 1706-10 beziehen, ist lang. Und keiner sollte es sich nach der Veröffentlichung der Untersuchungen von Riepe leisten können, sie einfach zu wiederholen, ohne sich zu blamieren.
Nach einem Bild des Historikers Francesco Bianchini stellt Riepe Händel vor das Fernrohr des Historiographen, das in der Lage ist, eine entfernte Zeit unter die Lupe zu nehmen und ungeachtet der sich im Laufe der Nachwelt anlagernden Legenden die widersprüchliche, „konzertante“ Vielfalt der schier unübersehbaren Fülle früherer Tatsachen vor Augen zu führen. Mit diesem Fernrohr sticht Riepe wie durch einen Nebel dazwischenliegender Zeiten auf eine Unmenge bisher übersehener oder fragwürdig interpretierter Fakten. Diese lassen vor allem erkennen, dass nicht nur die kultur- und musikgeschichtliche Situation in den Städten Rom, Neapel, Florenz und Venedig zu Händels Zeiten, sondern auch die Stellung Händels in der damaligen, v. a. römischen Gesellschaft sehr viel chaotischer, komplexer und vor allem weniger stolz und siegreich war, als bisher behauptet. Nur in diesem Sinne und auf diesem Wege wird die Wahrheit wirklich eine Tochter von Chronos. Riepe fängt noch einmal ganz von vorne an, das ganze Gestrüpp von Diplomatie, Konkurrenz, Beauftragung, Musikgeschmack und Eitelkeiten der Kollegen und Mäzene, der Kurie und weltlicher Würdenträger, Konzertveranstalter und Intriganten zu entwirren und kann dazu besonders ein neues Dokument, das Diarium des Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen, der sich zur gleichen Zeit wie Händel in Rom aufhielt, ins Feld führen. Dass das Feld ein Kampfplatz der Meinungen und Interpretationen ist und bleiben wird, ist auch nach Riepes Buch zu erwarten, nur Gleichgültigkeit und Ignoranz von Seiten des Rests der Händel-Forschung wäre noch schlimmer. Dass Händel mit Widerständen zu kämpfen hatte, dass ihm nicht nur Zustimmung, sondern auch Abwehr entgegengebracht wurde, und die Kardinäle und Patrizier ihm nicht alle nur zu Füßen lagen, kann nun genauer nachvollzogen werden. Als Nicht-Händelspezialist kann der Rezensent zwar kaum eine Nagelprobe auf eines der beschriebenen Verhältnisse und Beziehungen machen, sondern vieles an der Darstellung Riepes nur plausibel finden, aber man merkt es auch an der klugen und vorsichtigen Art, mit der Riepe operiert, dass hier ernstzunehmende Argumente vorgetragen werden.
Das Buch enthält nicht nur einen fast 100seitigen Anhang, in dem ein römischer Aufführungskalender des umstrittenen Jahres 1707, ein detaillierter chronologischer Abriss über Händel in Italien, ein Verzeichnis der Quellen und der Literatur sowie dokumentarische Auszüge aus Anton Ulrichs Diarium abgedruckt sind, sondern das ganze Buch ist durchsetzt mit 161 sehr instruktiven, belehrenden und die visuelle Erkenntnis fördernden Abbildungen, denen gegenüber sich die vier Notenbeispiele geradezu dürftig ausnehmen. Aber es geht hier nicht um eine über die werkgeschichtliche Einordnung hinaus gehende musikalische Werkanalyse der in Italien komponierten außerordentlichen Kantaten, Oratorien und Opern Händels. Ihre Faktur und besonders ihre Wirkung werden sich aber dem staunenden Hörer in Zukunft besser erschließen, wenn er um ihre fragilen Entstehungshintergründe weiß. Dennoch stehen in Riepes Darstellung die Musik und Händels Kompositionen im Zentrum, aber auch im Vergleich mit Werken anderer Zeitgenossen, so dass die heroenhafte Sonderstellung Händels relativiert wird. Riepes Unternehmen ist es gerade, Händels Kompositionen von dem Schutt der Diskurse, unter dem sie begraben liegen, zu befreien. Denn seit Foucault sollte bekannt sein, dass die historische Wahrheit auch über Kunstwerke nicht in den über sie gespannten Diskursen, sondern nur hinter oder unter ihnen zu suchen und zu finden ist.
Man kann Riepes Buch nur wünschen, dass es schon in einem noch unübersetzten Zustand auch in der internationalen Händel-Forschung, besonders der italienischen und der angelsächsischen, mit der dieses Buch am meisten produktiv korrespondiert, wahrgenommen wird und dass überhaupt eine erneute Auseinandersetzung beginnt.
Peter Sühring
Berlin, 11.01.2014