Oliver Huck: Das musikalische Drama im ,Stummfilm‘ [Markus Bandur]

Huck, Oliver: Das musikalische Drama im ,Stummfilm‘. Oper, Tonbild und Musik im Film d’art. –Hildesheim [u.a.]: Olms, 2012. – X, 338 S.: s/w-Abb., Notenbeisp.
ISBN 978-3-487-14846-5 : € 49,80 (geb.)

Die Begleitungsmusik zum sogenannten Stummfilm speist sich aus mehreren recht unterschiedlichen Quellen. Zum einen ist sie – gerade in der Frühzeit des Kinos – ein Abkömmling der Praxis des 19. Jahrhunderts, Live-Vorführungen in der Unterhaltungsbranche permanent mit Musik zu unterlegen; zum anderen folgt sie der Gewohnheit, in Schauspielen mit Inzidenzmusik zu arbeiten. Schließlich aber gehört – speziell im deutschsprachigen Raum – auch die Oper zu dem Referenzsystem des Musikeinsatzes bei der Vorführung bewegter Bilder.
Dass etwa Edisons Beschäftigung mit der Technologie des Films um 1890 ursprünglich von der Suche nach einer visuellen Ergänzung zu dem von ihm in den 1870er Jahren patentierten Phonographen seinen Ausgang nahm, verweist auf eine für die heutige Zeit ungewöhnliche Hierarchie. Doch tatsächlich bot die Musik – und insbesondere die Gattung der Oper mit ihrer jahrhundertelangen Tradition der Zusammenführung von Handlung und Musik – einen stabilen Bezugsrahmen für die Konstruktion der frühen filmische Narration, besonders nachdem das Kino in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts seine erste Attraktivität als Sensationsmedium einzubüßen begann und als Bildungsanstalt auch vermehrt von kulturbürgerlichen Kreisen akzeptiert wurde.
Oliver Huck, Professor für Musikwissenschaft an der Universität Hamburg, wendet sich in der vorliegenden Publikation dem Einfluss der Oper auf das Kino der Stummfilmzeit zu. Er untersucht in seiner materialreichen und detaillierten Studie die Bedeutung, die Werke von Richard Wagner, Charles Gounod, Georges Bizet, Pietro Mascagni und anderen auf die frühen Umsetzungen von Opernstoffen hatten, verfolgt darüber hinaus aber auch die Leitfunktion, die im Verhältnis von Handlung und Musik in der Oper des späten 19. Jahrhundert gesehen wurde, in die Anlage der komponierten Begleitungsmusik der frühen Spielfilme hinein. Sein zeitlicher Rahmen umfasst dabei die frühen Tonbilder – mehrminütige, parallel zu einer Grammophonplatte gedrehte und aufgeführte Opernszenen – und reicht über die Versuche, Stummfilme als auf Leinwand fixierte Opern zu begreifen, bis hin zu der von Richard Strauss stammenden Bearbeitung seiner Rosenkavalier-Partitur für die filmische Umsetzung durch Robert Wiene im Jahr 1926.
Hucks kenntnisreiche Spurensuche verhilft sowohl Cineasten als auch Musikhistorikern zu einem überraschend neuen Blick auf die Beziehung zwischen zwei normalerweise auf unterschiedlichen kulturellen Stilebenen angesiedelten Umgangsformen mit Musik. Seine Arbeit zeigt in den intermedialen Bezügen bislang weitgehend vernachlässigte Kontinuitäten auf, die noch in den frühen Tonfilm hinein weiterwirkten und in der Filmmusik erst nach 1950 zunehmend von der Orientierung an anderen musikalischen Stilbereichen wie etwa der Popmusik abgelöst wurden.

Markus Bandur
Berlin, 15.08.2013

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