Wald, Melanie und Wolfgang Fuhrmann: Ahnung und Erinnerung. Die Dramaturgie der Leitmotive bei Richard Wagner – Bärenreiter/ Henschel: Kassel [u.a.], 2013. – 269 S.: Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-7618-2260-9 (Bärenreiter) u. 978-3-89487-925-9 (Henschel) : € 24,95 (geb.)
Gleich die Einleitung zieht den Leser in ihren Bann: Spannend führt das Autoren(ehe)paar in Wagners vielschichtigen Umgang mit den sog. Leitmotiven ein, indem am Beispiel des sog. Schwertmotivs und einigen exemplarischen Wandlungen im Verlauf des Rings der Nibelungen plastisch vorgeführt wird, dass die Rolle der Leitmotive bei Wagner eben nicht in der Illustration und Verdoppelung des im Text Gesagten besteht. Unter geschickter Verwendung auch der neuesten Forschungsliteratur wird deutlich, dass ein Leitmotiv wie das Schwertmotiv in unterschiedlichen Kontexten ungeheuer biegsam sein kann, dass es dynamisch, harmonisch und instrumentatorisch sein musikalisches Erscheinungsbild stark verändert, sich mit andern Motiven psychologisch verbinden kann und teils Vergangenes erinnernde, teils Zukünftiges ahnende Funktion hat.
Ziel dieses Buches ist in erster Linie eine „kleine Phänomenologie von Wagners Leitmotivtechnik“ (S. 23), das meint die kunstvolle Behandlung der Themen und Motive durch Wagner mit dem doppelten Blick auf ihre musikalische und semantische Funktion zu durchleuchten. Damit soll – als zweite Zielsetzung- die Musikwissenschaft „wieder stärker in das interdisziplinäre Gespräch über Wagner und sein Werk“ einbezogen werden (S. 22). Überzeugend arbeiten die Autoren heraus, welche Rolle das Denken in konkreten, auf bestimmte Momente des Musikdramas bezogenen musikalischen Motiven in seiner Arbeitsweise spielte, dass ihm aber die Didaktik der Leitmotive in Motivtabellen und Opernführen fremd war, und sie plädieren dafür, dass nur die sorgfältige Beschreibung von Motivgestalten und deren szenisch-musikalischen Einbettung aus der „Sackgasse der Leitmotivbürokratie“ hinausführe (S. 39). Dabei sind nicht nur das (allzu oft allein berücksichtigte) Melodische, sondern Tonart und Harmonisierung, Lage im Tonraum und vor allem die Klangfarbe gleichermassen bedeutungstragend (weshalb alle in Opernführern und auf Vorsatzblättern in Klavierauszügen abgedruckten Leitmotive stets nur eine Erscheinung eines Motivs, oft auf die Melodik reduziert, herausgreifen). Überzeugend wird – maßgebend dann für die weiteren Werkbetrachtungen und von grundsätzlicher Einsicht – die Flexibilität der Wagner‘schen Motivgestaltung sinnvoll differenziert: zwischen den eigentlichen Leit- und sog. „Szenen“-motiven (z.B. Waldweben und Karfreitagszauber) sowie zwischen Motiven des Dramas und szenischen Effekten des Theaters (S. 53ff). Plausibel und grundsätzlich erhellend ist auch die Unterscheidung von „punktuellen“ und „wiederholten bzw. breiter ausgeführten“ Motivauftritten und die Auffächerung unterschiedlicher „Perspektiven des Orchesters“, analog zu unterschiedlichen Kameraperspektiven beim Film: von der subjektiven Innenperspektive über die synästhetische Verdoppelung/ Verdeutlichung bis zum Erzählerkommentar (S. 56ff). Dies alles, das spürt man bei der ersten Lektüre, sind keine Verkomplizierungen um ihrer selbst willen, sondern Mittel, die die Beschäftigung mit Wagners Musikdramen spürbar erleichtern sollen – und das tun sie auch, wie der Leser in den nachfolgenden Kapiteln erfahren kann.
In der relativen Reihenfolge der Entstehung werden im Folgenden die vier Ring-Abende (Rheingold, Walküre, Siegfried, Götterdämmerung), dazwischen Tristan und Isolde und die Meistersinger, und dann abschließend Parsifal anschaulich besprochen. Höchst geschickt ist die Konzentration auf Exemplarisches, bewundernswert ist die sympathische Beschreibungssprache, der es gelingt, Szenisches und Musikalisches ansprechend zu verbinden und heutige Leser unprätentiös zu erreichen. Willig folgt man dem Autorenpaar denn auch bei der Diskussion komplexerer Motivbeziehungen, etwa dem Zusammenhang zwischen dem Motiv der Liebe zwischen Siegmund und Sieglinde und dem Thema der Liebesgöttin Freia im Rheingold (S. 84-87, 90) oder der Analyse der expressiven Qualitäten des Motiv des siechen Tantris/Tristan, das durch ein mechanistisches Leitmotivverständnis nicht zu fassen ist (S. 106-109). Geschickt wird hier wie durchweg an sinnvollen Stellen auf Ergebnisse der neuesten Forschungsliteratur aufgebaut und verwiesen.
Lediglich hingewiesen wird en passant, das zum Text des Wagner‘schen Gesamtkunstwerkes selbstverständlich auch die szenischen Visionen Wagners gehören. Das Titelbild ziert eine Szenenaufnahme von der Frankfurter Götterdämmerung unter Leitung von Sebastian Weigle und in der Inszenierung von Vera Nemirova (2012), doch wird die Tatsache, dass es sich bei Wagners ‚Texten‘ um Bühnenkunstwerke mit einer respektablen, kontroversen Inszenierungstradition handelt, ausgeblendet. Das Buch richtet seinen Blick – in kluger Beschränkung – allein auf Wagners Partituren, und hier vermag es dem Leser viel zu vermitteln. Instruktiv sind die annotierten Notenbeispiele im Anhang, die allerdings vielfach einen geübten Notenleser voraussetzen. Es bleibt eine gutgemeinte Hoffnung, dass dieses Buch „auch musikalisch nicht oder nur wenig vorgebildeten Lesern verständlich und zugänglich sein wird“ (S. 219) Zum (hörenden) Nachvollzug sollte der Leser schon einen Stapel von (mit Taktnummern versehenen!) Klavierauszügen der besprochenen Werke griffbereit haben und ergänzend möglichst die besprochenen Stellen auf einer CD-Ausgabe selber heraussuchen (ein nicht unbeträchtlicher Aufwand, der sich aber lohnt!).
Für den so ausgestatteten Leser vermag die Lektüre dieses Buches dann tatsächlich aufzuzeigen – und das ist ein wichtiger Beitrag dieses Buches weit übers Wagnerjahr hinaus – „wie vielfältig und immer wieder überraschend neu sich Wagners Werke gerade dann erweisen, wenn man bereit ist, auf die allzu bequemen Etikettierungen der Leitmotive und eine diese bloß dechiffrierende Hörweise zu verzichten.“(S. 23)
Hartmut Möller
Rostock, 17.08.2013