Iddon, Martin: New Music at Darmstadt. Nono, Stockhausen, Cage, and Boulez. – Cambridge: Cambridge University Press, 2013. – XIV, 329 S.: s/w-Abb., Notenbeisp. (Music since 1900)
ISBN 978-1-107-03329-0 : ₤ 70,00 (geb.)
Kaum ein anderer Ort ist so eng mit der Neuen Musik nach 1950 verbunden wie Darmstadt. In den dort nach dem zweiten Weltkrieg veranstalteten alljährlichen Ferienkursen traf sich seit den frühen 1950er Jahren regelmäßig eine Gruppe von jungen Komponisten, die die die Entwicklung der Neuen Musik nachhaltig prägen sollten. Pierre Boulez, Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen – um nur die drei der Prominentesten unter ihnen zu nennen – diskutierten bei diesen sommerlichen Zusammenkünften innovative kompositorische, theoretische und ästhetische Ansätze, die in eine der bislang radikalsten Musikauffassungen mündeten: in das Konzept der seriellen Musik. ,Darmstadt‘ wurde zum Symbol einer musikalischen Bewegung, die die Agenda der Avantgarde maßgeblich dominierte. Sämtliche Errungenschaften der musikalischen Moderne in diesen Jahren sind unauflöslich mit den Darmstädter Veranstaltungen verknüpft, so dass die europäische Musikgeschichte dieser Zeit sich gleichsam als eine Chronik der Ferienkurse schreiben lässt.
Bislang wurden vor allem die theoretischen und kompositionsgeschichtlichen Details der Darmstädter Ferienkurse wie auch die biografischen Hintergründe der Organisatoren und Mitwirkenden aufgearbeitet; zahlreiche Veröffentlichungen widmeten sich Einzelaspekten, publizierten die in diesem Rahmen erarbeiteten Ergebnisse und stellten die Aufnahmen der Konzerte auf Tonträgern zusammen. Was bislang allerdings fehlte, war der Versuch, aus der Basis dieses Materials eine kohärente historische Darstellung zu entwerfen.
Diese Geschichte der „Darmstädter Schule“ zu schreiben, war das Ziel des englischen Musikwissenschaftlers und Komponisten Martin Iddon. Sein Buch darf als gelungene Zusammenführung der Forschungen zu diesem Thema gelten. Es gelingt dem Autor, aus dem umfangreichen Material die entscheidenden Stränge herauszuarbeiten, die für eine historische Argumentation unumgänglich sind, d. h. die biographischen und kompositionstechnischen Aspekte vor dem Hintergrund der Musikpolitik nach dem zweiten Weltkrieg zusammenzuführen und sie gleichzeitig in das internationale Musikleben einzubetten. So beschreibt Iddon, ausgehend von den ersten Impulsen aus Frankreich, die Entstehung einer Komponistengruppe, deren Homogenität er weitaus weniger in einer gemeinsamen theoretischen Grundkonzeption sieht als vielmehr in der Bereitschaft zu einer radikalen Diskussion der überlieferten, aber durch den zweiten Weltkrieg fundamental in Frage gestellten Musikauffassung.
Aus der Erläuterung von kompositionstechnischen Aspekten, aus der zitierten Resonanz auf die Darmstädter Konzerte in der Musikkritik, aus den Inhalten der brieflichen Kommunikation zwischen den Komponisten untereinander sowie mit den Organisatoren entsteht so das vielschichtige Panorama eines spannenden musikgeschichtlichen Jahrzehnts, in dessen Mittelpunkt die Ferienkurse und ihre Teilnehmer stehen. Das Ende der „Darmstädter Schule“, das zugleich eine Überführung ihrer Ideen und Ziele in einen neuen Kontext darstellt, datiert Iddon in die Zeit um 1960, als die Figur John Cage in der deutschen Musiköffentlichkeit verstärkt rezipiert und dadurch neue Impulse wirksam wurden, die das Konzept des Serialismus auf eine neue Stufe hoben. Der Tod von Wolfgang Steinecke im Jahre 1961 markiert dabei zugleich eine parallel Zäsur, mit deren Berücksichtigung Iddon deutlich macht, welchen Anteil er dem Initiator der Ferienkurse an der Herausbildung und der internationalen Ausstrahlung der „Darmstädter Schule“ beimisst.
Markus Bandur
Berlin, 15.08.2013