Rosselli, John: Giuseppe Verdi. Genie der Oper. Eine Biographie /Aus d. Engl. übers. von Michael Bischoff. ‑ München: C. H. Beck, 2013. ‑ 286 S.: Abb.
ISBN 978-3-406-64138-1 : € 21,95 (geb.; auch als E-Book erhältl.)
Es gibt Bücher, die zwar keine wirklich neuen Erkenntnisse bringen, deren Bedeutung aber vor allem darin besteht, dass sie das schlechte Alte, den Schutt einer zweifelhaften Überlieferung, die Verzerrungen der Vergangenheit beiseite schaffen und das, was einer kritischen Überprüfung standhalten kann, wieder freiräumen und sichtbar machen. Dadurch wirkt das gute Alte, das fast schon verschüttet war, wieder wie neu. Von solchem Kaliber und solcher Wirkung war die Verdi-Biographie Rossellis als sie im Jahr 2000 im englischen Original erschien, ein Jahr vor dem 100. Todestag Verdis; sie wirkte und korrigierte das Verdi-Bild durch ihre Weglassungen. Dass sie nun endlich zu Verdis 200. Geburtstag auf deutsch erscheint, ist sehr zu begrüßen, wenn auch die Freude sich erst auf den zweiten langen Blick (während der beglückenden Lektüre) wieder einstellt, denn der erste kurze Blick muss sich natürlich daran stoßen, dass auch der Beck-Verlag meint, schon im Titel des Buches ein schlagkräftiges Klischee strapazieren und den Genie-Kult um Verdi weiter anfachen zu müssen. Wo es bei Rosselli schlicht hieß The life of Verdi muss in der deutschen Ausgabe auf den Deckel geklotzt werden: Genie der Oper, fehlt nur noch der bestimmte Artikel vor dem Wort Genie, um die Übertreibung perfekt zu machen. Rosselli sprach von einer „kritischen Biographie“, die sich nur auf die schriftlichen Primärquellen stützt und durch den historischen Kontext das Leben Verdis neu beleuchten möchte. Da er „nur“ Historiker ist und kein Musikologe, ist er so frei, Äußerungen zur Musik Verdis, wenn andere (vor allem Julian Budden oder G. B. Shaw) ihm treffend scheinendes formuliert haben, einfach zu zitieren. Bescheidenheit ist eine Zier und mit ihr kommt man als Biograph sehr weit. Das mit über zehnjähriger Verspätung auf deutsch erscheinende Buch kann und sollte auch heute noch seine für die deutsche Verdi-Diskussion heilsame Wirkung entfalten.
Kritische Biographie heißt nicht, dass Rosselli hier eine fundierte Kritik der bisherigen Verdi-Biographik geben wollte; oft wischt er bestehende Irrtümer oder „interessierte“ Meinungen in einem Nebensatz unauffällig beiseite. Kritisch heißt hier aber auch, dass er Verdis Selbstzeugnissen über sich und seine Taten nicht einfach übernimmt, sondern einerseits aufdeckt, dass sie unhaltbar sind, andererseits Verdis Beweggründe zu solch kleinen taktischen Notlügen sehr wohl verstehen und erklären kann. Und ihren dennoch vorhandenen wahren Kern enthüllt und gelten lässt. Rossellis Argumentation ist abwägend, weich in der Form, hart in der Sache und auf die feine englische Art am common sense orientiert. Er geht von einem Zitat Isaiah Berlins über Verdi als im Sinne Schillers „naivem“ Künstler aus, der unangekränkelt von im Sinne Schillers „sentimentalischen“ Miseren und subjektiven Reflexionen versucht, mit Theatermusik die allen Menschen eigenen und bekannten Leidenschaften und Konflikte dazustellen. Darum ist der Funke, das Feuer, die Begeisterung für das Lebendige, das auch zerstörerisch sein kann, das entscheidende Movens seiner Musik, die ohne viel Worte auskommt und vor allem keine nachträglichen Erklärungen braucht. Allein der historische und kulturelle Abstand zu Verdis Schöpfungen lässt sie heutzutage als nötig erscheinen.
Man kann auch aus musikologischer Sicht Rossellis musikalischem Verständnis so weit vertrauen, dass man sich an seiner Hand verlässlich führen lassen kann bei den Einblicken in die musikalische Dynamik, die Verdi in seinen Opern entfesselte: den Bau der Szenen, die musikalischen Mittel der Verengung oder Erweiterung der Intervalle, die Stimmlagen, die Instrumentierung etc. Spätestens bei der ersten längeren, einer vierseitigen Beschreibung der kompositorischen Verfahrensweisen Verdis in seiner Oper Ernani gewinnt der Leser dieses berechtigte Zutrauen, das sich während des ganzen Buchs fortsetzt. Schon die von Rosselli erläuterte Stoffwahl zeigt Verdi als großen, von der Weltliteratur (Shakespeare, Schiller, Viktor Hugo) geprägten Humanisten, dem nichts Menschliches fremd war, der aber auch das Getriebensein der Menschen durch von ihnen nicht beherrschbare Schicksale kannte, fürchtete und in ebenso abgründigen wie erhabenen musikalischen Szenen, in denen die Seelen verhandelt werden, vor Augen und Ohren des Publikums stellen konnte.
Verdis Beziehungen zu seiner Umwelt, den Librettisten, Impresarios, Sängerinnen und Sängern, Verlegern und Musikern, auch zu gesuchten Freunden aus ganz anderen Berufen werden hier kenntnisreich, aus den Briefen und anderen Quellen in ihren Spannungen, ihren glücklichen und schlimmen Seiten geschildert. Auch durch noch so viele Rücksichten auf historische, familiäre, literarische und operngeschichtliche Umstände und Voraussetzungen stilisiert Rosselli den Komponisten nicht zu einem abhängigen, sentimentalischen, selbstreflexiven Künstler, sondern er beschreibt ihn als einen in seiner für ihn typischen, oft rohen Unmittelbarkeit belassenen, der dennoch zunehmend raffinierter und problembewußter komponierte, ohne seine Naivität und Selbstsicherheit zu verlieren. Verdi wird hier vorgestellt als ein Repräsentant einer urteilskräftigen und zupackenden Vernunft, die vor den großen Gefühlen nicht kapituliert, sondern sie sich ebenso hemmungslos wie künstlerisch kalkuliert musikalisch ausleben lässt.
Verdi verkörpert keinen Roman der Oper, kein Genie der Oper, sondern eine menschlich-künstlerische Vernunft in der Oper. Dank Rosselli könnten nun auch die Deutschen lernen, was das heißt. Das Buch hat außer gut ausgesuchten Abbildungen auch ein paar Anmerkungen, etliche für das deutsche Lesepublikum erweiterte Literaturhinweise, eine Zeittafel, ein opernterminologisches Glossar und ein Register. Das wirklich wichtige Verdi-Buch der Saison!
Peter Sühring
Berlin, 24.06.2013