„Verzeiht, ich kann nicht hohe Worte machen“. Briefe von Otto Klemperer 1906-1973 / Hrsg. von Antony Beaumont – München: edition text + kritik, 2012.- 658 S.: Abb.
ISBN 978-3-86916-101-3 : € 54,00 (geb.)
Otto Klemperer, ohne Zweifel eine der prägenden Dirigenten- und Musikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, starb vor genau vierzig Jahren. Die vorliegende, lange erwartete Ausgabe einer Auswahl seiner Briefe ist wohl diesem Umstand zu danken. Die insgesamt 426 Briefe, die in den Band aufgenommen wurden, stammen sämtlich aus dem „ Archiv O. K.“, einer von Klemperers Tochter Lotte (1923-2003) zusammengetragenen Sammlung von mehr als 4.000 Briefen, Programmzetteln und sonstigen Memorabilia, Klemperers Leben und Wirken betreffend. Die Herausgabe hat der Dirigent und Musikforscher Antony Beaumont übernommen; warum sie erst zehn Jahre nach Lotte Klemperers Tod erfolgt, der dieses Buch wohl ein großes Anliegen war, verschweigt uns Beaumont.
Die Zeitspanne, welche die Briefe abdeckt, reicht vom 21-jährigen Chorleiter 1906 in Prag, bis zum Ende seines Lebens, 1973. Jedem Abschnitt der nach Wohnorten Klemperers chronologisch geordneten Auswahl wird eine Chronologie vorangestellt, die seine aktuelle Lebenssituation in Stichworten dokumentiert, biografische Notizen über die Adressaten erleichtern dem Leser das Verständnis der Briefinhalte. Neben Briefen an Familienmitglieder, die Klemperers private Lebensumstände spiegeln, findet man unter den Adressaten praktisch ein „who is who“ der Musik- und Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Komponisten wie Berg, Schönberg, Pfitzner, Richard Strauss, Busoni, Braunfels, Hindemith, Krenek, Schreker finden sich neben Dirigenten wie Ansermet, Barbirolli, Oskar Fried, Furtwängler, Leibowitz, Schalk, um nur die Bekanntesten zu nennen. Darüber hinaus finden sich unter den Adressaten auch viele bedeutende Persönlichkeiten außerhalb der musikalischen Welt. Klemperers künstlerischer Weg, der ihn über die Chorleiter-Anfänge in Prag als Kapellmeister nach Hamburg, Barmen und Straßburg, schließlich als Generalmusikdirektor nach Köln, anschließend in gleicher Position nach Wiesbaden führte, evozierte freilich den Kontakt zu den bedeutenden Musikern seiner Zeit. Spätestens durch die Leitung der so genannten Kroll-Oper in Berlin von 1928 bis 1931 avancierte Klemperer zu einem Sachwalter der musikalischen Avantgarde, womit er sich keineswegs nur Freunde machte. Nach der Schließung dieses Instituts, die nicht – wie vielfach fälschlicherweise behauptet – von den Nationalsozialisten, sondern in erster Linie durch wirtschaftliche Zwänge sowie Rivalitäten innerhalb der Berliner Opernszene erzwungen wurde, blieben Klemperer noch zwei Jahre in wechselnden Positionen, ehe er 1933 Deutschland verlassen musste. Diese erste Lebenshälfte ist in der groß angelegten, zweiteiligen Biographie von Peter Heyworth (Otto Klemperer, His life and times, 1996) hervorragend dokumentiert, der zweite Band, der die Jahre 1933 bis 1973 behandelt, ist unverständlicherweise bis heute nicht in deutscher Übersetzung erschienen. Ein Ärgernis, da auch Eva Weissweilers deutschsprachige Biographie (Otto Klemperer. Ein deutsch-jüdisches Künstlerleben, 2010) diesen Zeitraum eher oberflächlich behandelt.
Dadurch gewinnen die Briefe aus diesem Zeitraum an Bedeutung und geben Einblicke in die teilweise schwierigen Jahre in Amerika, die zeitweise von manisch-depressiven Phasen geprägt waren, welche seinen Ruf zu schädigen drohten, und zu einer starken Einschränkung seiner künstlerischen Tätigkeit führten. Leider finden sich für diese Lebensphase, auch für die Budapester Jahre von 1947 bis 1950 nur vergleichsweise wenige Briefe in der Auswahl.
Klemperers Briefe sind in der Regel kurz gehalten, zumeist auch sehr direkt. Der Titel des Buches ist daher durchaus klug gewählt. Mehrere Anhänge erhöhen den Wert des Buches erheblich: so sind die – im englischen Original abgedruckten – stichwortartigen Notizen Lotte Klemperers über ihren Vater durch ihre Authentizität von großem biografischem Wert, ein Verzeichnis des Repertoires des Dirigenten listet nicht nur Werke, sondern auch Daten der jeweils ersten Aufführung, in vielen Fällen sogar Namen von Solisten auf, es folgen Kurzbiografien der Briefempfänger. Die unzähligen Anmerkungen, die zum Verständnis der Brieftexte beitragen, zeugen von großer editorischer Sorgfalt und machen das Buch für alle an Otto Klemperer und seinem künstlerischen Schaffen Interessierten zur Pflichtlektüre. Neben der Wiederveröffentlichung eines Großteils von Klemperers Einspielungen sicher der wichtigste Beitrag zum 40. Todestag Klemperers.
Peter Sommeregger
Berlin, 01. 07. 2013