Wahnsinn in der Kunst. Kulturelle Imaginationen vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert / Hrsg. v. Susanne Rohr u. Lars Schmeink – Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2011. – 260 S.: s/w-Abb.
ISBN 978-3-86821-284-6 : € 28,50 (kt.)
Für uns heute eher eine Horrorvorstellung: das Herausschneiden des Steins des Wahnsinns per Schädelbohrung. Zwar fehlen für diese waghalsige Operation medizingeschichtliche Beweise, doch liefert die bildende Kunst einen reichen Fundus an entsprechenden Darstellungen: Das Titelbild des vorliegenden Bandes stammt von Hieronymus Bosch: „Meister, schneid‘ den Stein rasch, mein Name ist Lubbert Das“. Boschs Bild ist freilich offen für unterschiedlichste Lesarten: Liegt der Wahnsinn im festgebundenen Patienten oder im schneidenden Quacksalber, in Mönch oder Nonne (S. 11-13)?
In der Einleitung zum vorliegenden Band, dem es um die unterschiedlichsten kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen von Kunst mit Wahnsinn geht, entwerfen die Herausgeber eine Mikrogeschichte des Wahnsinns, gestützt auf Roy Porters Studie Madness. A Brief History (Oxford 2002). Galt der Wahn noch bis zur griechischen Antike als Zeichen göttlicher oder dämonischer Intervention, waren seit René Descartes und John Locke Wahnsinn und Unvernunft das Andere, das Wegzusperrende der Gesellschaft. Gemeinsam ist den thematisch breitgestreuten Beiträgen aus Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaft, den Wahnsinn in seinem jeweiligen historischen Moment und seinen gesellschaftlichen Diskursen zu verankern.
Zwei Beiträge befassen sich mit dem Theater: Beate Neumeier untersucht die Verwendung des Wahnsinns im britischen Renaissance-Theater zur Bestätigung und Infragestellung der Kategorien mind (madness/sanity) und gender (femininity/masculinity), Norbert Greiner analysiert den Wahnsinn in den Stücken der britischen Dramatikerin Sarah Kane (†1999 durch Freitod) als Ausdruck des Scheiterns von sozialer Identitätsbildung. Der Verbindung medizinischer und literarischer Diskurse im 19. Jahrhunderts sind ebenfalls zwei Beiträge gewidmet: Marc Föcking weist nach, wie Flaubert in seiner Madame Bovary die Ergebnisse der zeitgenössischen Hysterieforschung aufgreift, Yvonne Wübben analysiert Georg Büchners radikale Verhandlung des wahnsinnigen Dichters Lenz. Das Panorama der verrückten Russen in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, von Puschkins Pique Dame über Dostojewskis Romane bis hin zu Belyjs Petersburg, beleuchtet Horst-Jürgen Gerigk. Hitchcocks Psycho und Formans One flew over the Cockoo’s Nest begrenzen das Spektrum der Filme, anhand derer Johann Schmidt die filmischen Darstellungstechniken des Hollywood-Kinos für die verschwimmenden Grenzen von Normalität und Wahnsinn sowie die Thematisierung der Heilung von Wahnsinn beleuchtet. Um wahnsinnige Verbrecher und Massenmörder geht es in zwei Beiträgen: Petra Hühn geht dem Wahnsinn als Motiv in Verbrechensromanen von Ruth Rendell und Patricia Highsmith nach, und zwar hinsichtlich der Verletzung gesellschaftlicher Normen, abweichender Wahrnehmungen der ’wahnsinnigen‘ Figuren sowie der Funktion des Wahnsinns in der Plotentwicklung. Claudia Heuer zeigt, wie Bret Easton Ellis in American Psycho mittels Techniken der Satire und des unzuverlässigen Erzählens über normative Kategorisierungen moralischer und wahnsinniger Verhaltensweisen hinausgeht. Kritisch beurteilt Sophia Komor die Fiktionalisierung der eigenen psychischen Krankheitsgeschichte zweier Autorinnen und verweigert diesen ‚Autopathographien‘ eine Aufnahme in die Gattung der Autobiographie. Das Bild des Mad Scientist in Mary Shelleys Frankenstein und Margaret Atwoods Oryx and Crake deutet Lars Schmeink als modernen Mythos, der vor dem zerstörerischen Potential menschlicher Kreativität warnt.
Im Rahmen von Musik & Psyche sind vor allem die folgenden zwei Beiträge von näherem Interesse: Alexander Meyer–Dörzenbach zeichnet die Entwicklung der künstlerischen Beschäftigung mit dem Wahnsinn in exemplarischen Beispielen der bildenden Kunst und in den Wahnsinnszenen der Oper nach. Er geht auf die wohl berühmteste Wahnsinnsarie in Donizettis Oper Lucia di Lammermoor (1835) ein (mit dem interessanten Detail, dass zur Vertonung des verrückten Zustands der Lucia ursprünglich die ‚gefährliche‘ Glasharmonika vorgesehen war) und stellt sie verschiedenen Beispielen für Männerstimmen bei Verdi gegenüber, in Nabucco, Macbeth und Otello (S. 20-23). Anschaulich wird sodann der anrührende Weg zur Bannung des Wahnsinns in Bellinis I puritani (1835) beschrieben. Die Auseinandersetzung der Beat-Poets Burroghs, Ginsberg und McClure sowie der psychedelischen Rockgruppe The Doors in den 1960-er Jahr mit abweichenden Geisteszuständen und ‚temporär induziertem Wahnsinn‘ verfolgen Hans-Peter Rodenberg und Dennis Büscher-Ulbrich. Überzeugend lesen sie sie als Rückbesinnung auf orale Kulturen, spirituelles ‚indianisches Bewußtsein‘ und schamanische Erfahrungen mit dem Ziel von Grenzüberschreitungen und der Auflehnung gegen die gesellschaftliche Definition von Normalität. Beispiele von Ginsberg belegen, wie die Beat-Poeten mittels des Wahnsinns die ‚imaginary walls‘ der repressiven Realität zum Einsturz bringen wollen (S. 132f), in anderer Weise begreift McClure seine Klanggedichte als Kunst der Ekstasetechnik. Mittels Zitaten aus Jim Morrisons Lyrikveröffentlichungen und Ausschnitten aus Musikvideos begreifen die beiden Autoren sodann die Rockkonzerte der Band The Doors als temporäre schamanistische Séancen, als Experiment einer temporären Praxis libidinöser Besetzung, die das entfremdete Gesellschaftssystem kritisierte.
Alle Beiträge dieses anregend konzipierten Bandes sind mit interessanten weiterführenden Literaturangaben versehen und machen in gelungener Weise neugierig, sich vertieft mit dem weiten Spektrum künstlerischer Imaginationen des Wahnsinns zu beschäftigen.
Hartmut Möller
Rostock, 20.05.2013