Gerhard, Anselm: Giuseppe Verdi ‑ München: C. H. Beck 2012. ‑ 128 S. (Beck Wissen )
ISBN 978-3-406-64072-8 : € 8,95 (kt.; auch als E-book erhältl.)
Die Flut steigt und die Wüste wächst, d.h. die Publikationen zum 200. Geburtstag Verdis im Oktober nehmen quantitativ zu und qualitativ ab, wie das bei dem unverwüstlichen Genre Musiker-Biografie fast unvermeidlich ist ‑ viele fühlen sich berufen, das italienische Phänomen eines Opernkomponisten zwischen Belcanto und Verismo zu porträtieren. Da ist es ganz ratsam, zunächst einmal ein kleines Bändchen eines erfahrenen Verdi-Spezialisten zu goutieren, in dem dieser versucht hat, sein stupendes Wissen komprimiert und wo möglich allgemeinverständlich darzubieten. Der Berner Musikwissenschaftler Anselm Gerhard hat es vollbracht, Verdi vom mythenumrankten Podest zu holen und ihm zugleich ein würdiges Denkmal zu setzen.
Gerhard geht es primär um ein angemessenes Verständnis der von Verdi komponierten Opern, über deren jeweilige Besonderheiten im Aufbau und Charakter er sehr präzise und anschaulich zu sprechen weiß. Das biografische Gerüst holt er sich aus den inzwischen publizierten Dokumenten, wobei zu berücksichtigen ist, dass ein wichtiger Teil von Verdis Nachlass immer noch unter Verschluss liegt. Am wenigsten traut er Verdis autobiografischen Bemerkungen und brieflichen Mitteilungen über den Weg, sie sind ihm eher Zeichen einer grotesk-verfälschenden Selbstinszenierung, deren selbstironischer und scherzender Charakter aber schwer zu übersehen ist.
Die sich bei Verdi recht allmählich vollziehende Erweckung zum musikalischen Original, vom Neunjährigen, der in der Provinz die Orgel schlägt über den Gymnasiasten, der konventionelle Tonstücke für Liebhaberorchester schreibt, bis zum protegierten Musikstudenten in der Metropole Mailand, der seine erste Oper unbedingt im Teatro alla Scala aufgeführt sehen möchte, ist von Anfang an mehr eine éducation sentimentale et littéraire als eine zielstrebig musikalische. Die Idee, in Literatur verwandelte menschliche Konflikte wiederum in Musik umzusetzen, ist bereits ein Beweggrund des jungen Künstlers, dem er sein Leben lang in vielen Windungen folgen wird. Gerhard lässt sich in seiner Nacherzählung von keiner von Verdi selbst oder seinen Verehrern lancierten Falschmeldung aus dem Konzept bringen, Verdi als einen Musiker darzustellen, der tief in der mediterranen, ländlichen italianità wurzelt, dem aber die Weltliteratur zu Herz und Kopf gestiegen ist, und der nichts anders kann, als das in diesem Fundus liegende musikdramatische Potenzial zum Gegenstand seiner Kompositionen für die Bühne zu machen. Darum gewinnt die Beschreibung der musikalischen Formen, die Verdi auch jenseits der Konventionen findet, um dem jeweiligen Sujet gerecht zu werden, ein besonderes Gewicht in Gerhards Darstellung. Die spezifische tinta musicale, die Verdi jedem seiner Stoffe zu geben weiß, ist das eigentliche Thema dieser Verdi-Monographie, der das Thematische in Verdis Musik selbst und seine Auswirkungen auf Melodie, Rhythmus, Behandlung von Stimme und Orchester, am Wichtigsten ist. Warum beispielsweise Verdi ein Schillersches Ideendrama wie Don Karlos mit ausschweifenden Duetten vertont, in den Shakespearschen Tragödien Macbeth und Othello aber auf äußerste Prägnanz der Worte und musikalischen Motive achtet, will Gerhard dem interessierten Leser nahebringen. Verdi hatte schon damals zuweilen die Publikumserwartungen in Italien, aber auch in Paris düpiert und Misserfolge aus künstlerischer Aufrichtigkeit in Kauf genommen. Dies wird von Gerhard als die Eigendynamik eines künstlerischen Gewissens geschildert, das von seiner Qualität zwar überzeugt und dem Ruhm nicht abgeneigt ist, aber kompromisslos an der Realisierung seiner vom Massengeschmack abweichenden musiktheatralischen Konzepte arbeitet.
Privates und Familiäres, Intimes kommt in dieser Monografie ebenso am Rande vor wie Politisches und Geschichtliches ‑ wenn, dann aber in pointierten Hinweisen, die die persönliche Situation und öffentliche Rolle Verdis schlaglichtartig erhellen. Auch die Opern und anderen Werke wie das Requiem oder die anderen sakralen Vokalwerke werden hier in ihren Handlungen und Inhalten nicht eigentlich vorgestellt, sondern zum Teil als zu besitzende Bildungsgüter vorausgesetzt. Basale Informationen über Personage und Szenerien in den Opern Verdis müsste ‑ und soll man sich wohl auch ‑ woanders als aus diesem Büchlein besorgen; hier wird Verdis kompositorisches Selbstverständnis, seine hellwache Auseinandersetzung mit den Tradition der italienischen und französischen Oper, mit der Weltliteratur und der Tagespolitik und dem Menschenschicksal im Allgemeinen geschildert. Auch hieraus erhellt, wie Verdi es schaffte, zu Lebzeiten nicht zu veralten und noch in hohem Alter avantgardistisch zu werden. Das Büchlein verfügt über einen minimalen wissenschaftlichen Anhang aus einem Glossar, bibliografischen Hinweisen, einer Werkübersicht mit Seitenregister und einem Personenregister. Dieses bewundernswerte kleine Buch enthält und ersetzt zugleich einen Großteil der sich vor uns auftürmenden Verdi-Literatur und kann als Einstieg in eine wie als Quintessenz aus einer interessierten Beschäftigung mit Verdi genommen werden.
Peter Sühring
Berlin, 18.05.2013