Wilhelm Berger (1861–1911). Komponist – Dirigent – Pianist. Vorträge der Tagung 2011, veranstaltet von der Sammlung Musikgeschichte der Meininger Museen/Max-Reger-Archiv in Kooperation mit dem Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn. Hrsg. von Irmlind Capelle und Maren Goltz. – München: Allitera, 2013. – 204 S.: Schwarzweißabb., Notenbsp. (Beiträge zur Kulturgeschichte der Musik ; 6)
ISBN 978-3-86906-491-8 : € 24,00 (geb.)
Nur selten ist im 20. Jahrhundert die zeitgenössische Musik – und hier besonders die Avantgarde – populär geworden, weshalb man sich seit den 1970er Jahren wieder verstärkt der Vergangenheit zuwandte. Eine Begleiterscheinung dieser musikalischen Archäologie war die historische Aufführungspraxis, welche das Bekannte aus Barock und Klassik in neuem Klanggewand erschloss und darüber hinaus eine kaum überschaubare Fülle an Vergessenem zu Tage förderte. Außerdem wurden Komponisten des 19. Jahrhunderts jenseits der sanktionierten „Musik-Heroen“ ausgegraben, worauf sogar Gesellschaften entstanden, die sich dem Vermächtnis von beispielsweise Felix Draeseke oder Franz Xaver Scharwenka widmeten. Gerade in einer Zeit, in der das traditionelle Bildungsideal mehr und mehr verloren geht, sind solche Bemühungen um das kulturelle Erbe äußerst verdienstvoll. Nun hat man Wilhelm Berger aufgespürt, der (wenn auch nur kurz) in den größeren Fachlexika zwar regelmäßig berücksichtigt wird, bisher aber in der Musikwissenschaft und im Konzertleben unbeachtet geblieben ist. Er gehört – wie etwa Heinrich von Herzogenberg – zu den Komponisten um 1900, die in der Brahms-Tradition standen, und sein Schaffen ähnelt folglich dem des Vorbildes: Orchesterwerke und Kammermusik einschließlich Sololiteratur in fast allen Besetzungsvarianten sowie verschiedene Formen der Vokalmusik (Lieder und Chorwerke) – abgesehen von einem Opernfragment fehlt hingegen das Musiktheater. Von 1878 an in Berlin (zuerst Studium, dann als Lehrer und Dirigent sowie Konzertpianist), übernahm Berger von Fritz Steinbach 1903 die Stelle des Hofkapellmeisters in Meiningen (1911 folgte Max Reger). Hier erinnerte man hundert Jahre nach seinem Tod an ihn mit einer Tagung und veröffentlichte jetzt neun der damaligen Beiträge. Diese befassen sich vor allem mit seinem Werk, wobei sein Vokalmusikschaffen etwas im Vordergrund steht (darunter der Zeit entsprechend viele groß besetzte Chorsätze und chorsymphonische Werke). Mehrere Notenbeispiele belegen Bergers harmonisch ambitionierten Stil, und wenn auch Brahms durchgehend als prägend angeführt wird, so zeigt sich in manchen Details zum Beispiel ein Einfluss Wagners. Während zudem Bergers Bedeutung als Meininger Hofkapellmeister beleuchtet wird, vermisst man (nicht zuletzt durch den Untertitel des Bandes naheliegend) eine Würdigung des Pianisten. Darüber hinaus wären eine Zeittafel und ein knappes Werkverzeichnis (einschließlich unveröffentlichter Kompositionen) hilfreich gewesen, weil es über Berger nur wenig ältere Fachliteratur und nichts substanziell Neues gibt. Als Anreiz zum Betreten einer musikalischen „terra incognita“ ist der Band gleichwohl bestens geeignet.
Georg Günther
Stuttgart, 23.04.2013