Wendt, Joja und Kester Schlenz: Der kleine Flügel. Eine phantastische Geschichte mit Musik – Reinbek: Rowohlt, 2012. – 253 S.: Abb.
ISBN 978-3-463-40639-8 : € 19,95 (geb.; auch als Digitalbuch erhältl.)
Wenn der bekannte Pianist Joja Wendt ein Buch schreibt, nimmt die Medienwelt dies mit besonderer Aufmerksamkeit zur Kenntnis.
In den Buchhandlungen ist die neue Veröffentlichung im Jugendbereich, bei der Musikfachliteratur oder bei den Autobiografien zu finden. Die Frage, an welche Leserschaft sich dieses Buch wendet, dürfte keine Buchhändlerin treffsicher beantworten können.
Die talentierte 14-jährige Nelly nimmt nur noch ungern bei ihrer verknorzten Lehrerin Unterricht, da sie niemals die Musik spielen darf, die ihr neben Tonleiter- und Fingerübungen Spaß macht. Sie fühlt sich eingeengt und bedrückt. Der Opa spürt Nellys Problem und erzählt die ermutigende Geschichte vom kleinen Steinway-Flügel, die mit dem Kauf des Instrumentes durch einen wunderbaren Pianisten beginnt. Leider stirbt der Pianist und dessen Ehefrau verkauft den Flügel an zwei unheimliche Gestalten. Wie sich herausstellt, suchen sie im Auftrag der Erhabenen, einer allmächtigen Orgel, die besten Instrumente der Welt. Im Turm der Instrumente soll die vollkommenste Musik erklingen. Alle Instrumente können natürlich sprechen und von selbst musizieren. Der Flügel wird während der Geschichte laufend und fliegend viele Abenteuer erleben. Willensstark lehnt er sich gegen die Orgel auf und findet heraus, wie ihr Plan, musikalische Freiheit zu unterdrücken, aufgehalten werden kann. Nachdem der Flügel in Ungnade gefallen ist und aus dem Turm katapultiert wird, landet er unversehrt auf einer Zeltplane, in der die ausgestoßenen Nicht-Klassik Instrumente E-Gitarre, Fender-Bass, Synthesizer, Mundharmonika und Sampler hausen. Ab Seite 91 wollen die modernen Instrumente endlich cooler und lustiger als die Orchesterinstrumente klingen, aber ihre Wortwahl bleibt gestelzt und aufgesetzt. Der Flügel ist der uneingeschränkte, unverletzbare Held, der auch in letzter Sekunde Lösungen sieht und nie aufgibt, den Weg zur Rettung einer lebendigen Musik zu finden.
Die Geschichte kann weder berühren noch fesseln, da es ihr an der Identifikationsfigur fehlt, die Seele und Schwäche zeigt.
Mit Beginn der Lektüre fragt man sich angesichts der einfältigen Sprache, für welche Altersstufe Joja Wendt gemeinsam mit dem Journalisten und Autor Kester Schlenz geschrieben hat. Die überwiegend kurzen Sätze schleppen sich dahin. Die Handlung ist, nicht zuletzt wegen der Kapitelbenennungen, an jeder Stelle vorhersehbar. Die kargen neun Illustrationen gewähren keine Auflockerung. In diese einfache Sprache poltern dann plötzlich schwerwiegende musikalische Begriffe, für deren Erläuterung ein 4-seitiges Glossar am Ende des Buches erforderlich ist. Begriffe wie Polyphonie (S. 97), dynamische Nuance (S. 133), kreuz- und polyrhythmische Sequenzen (S. 135), Doppelvorschläge (S. 186), ausgestoßene Repetitionen (S. 209) oder isorhythmische Motette (S. 218) werden jedoch als bekannt vorausgesetzt.
Als Vorlesegeschichte überfordert das “Märchen” kleinere Kinder musiktheoretisch. Es wird leseeifrige Jugendliche geben, die die Einbindung des Themas Musik in eine Handlung à la Hobbit ganz gut finden.
Nach dem Verschwinden von den Neuerwerbungstischen könnte das bislang teure, sorgfältig gebundene und auf edlem Papier gedruckte Buch zu einem günstigeren Preis angeboten werden. Vielleicht für Jugendliche ab 12 Jahren.
Cortina Wuthe
Berlin, 16.04.2013