Hans Werner Henze und seine Zeit / Hrsg. von Norbert Abels und Elisabeth Schmierer – Laaber: Laaber, 2012. 350 S.: Notenbsp./Abb. (Große Komponisten und ihre Zeit)
ISBN 978-3-89007-766-6 : € 34,80 (geb.)
Das Datum von Henzes Tod in Dresden konnte gerade noch in die den Bänden aus dieser Reihe üblicherweise vorangestellte Chronik als letztes aufgenommen werden. Auch sonst scheint der plötzliche, aber nicht ganz unerwartete Tod des „Meisters“ (so hört man schon die Schar der Jünger in altdeutscher Weise raunen) das Erscheinen dieses Sammelbandes enorm beschleunigt zu haben. Leider nicht nur zu seinem Vorteil. Denn, abgesehen von der verlegerisch krummen Tour, dem werten Lesepublikum einen speziellen Tagungsband zu Henzes Literaturopern und anderen literarisch inspirierten Werken als einen Band aus der Reihe Große Komponisten und ihre Zeit (eine Reihe, die angeblich die „Wechselbeziehungen zwischen Leben, Werk und Zeit in umfassender Weise beleuchten“ will) zu verkaufen, stolpert man laufend über jede Menge Schludrigkeiten (falsche Jahreszahlen, in der Unterschrift zu einem Notenbeispiel kennt man sogar ein „3. Klavierkonzert“ Henzes). Der Band hätte eigentlich als selbständiges Buch erscheinen müssen unter dem Titel Gleichnis und Wirklichkeit – Hans Werner Henze und die Literatur, Symposium im Rahmen des Henze-Projekts von RUHR.2010. Damit hätte man den Kunden reinen Wein eingeschenkt und nicht fälschlich behauptet, der „vorliegende Band [würde] einen umfassenden Blick auf die zahlreichen Facetten [von Henzes] vielseitigem Schaffen“ eröffnen. Eröffnet er eben nicht, kann er unter der ursprünglichen Themenstellung auch gar nicht; müsste er ja auch gar nicht außer man will ihn unter falschem Etikett aus kommerziellen Gründen in eine Reihe hineinzwingen, in der er nichts zu suchen hat. Gut, der Umsatz stimmt, dank diesem Trick, aber mancher Leser (rsp. Käufer) dürfte verstimmt sein, und man fragt sich, wie lange der Verlag diese Strategie der ideellen Selbstschädigung seines Rufes eigentlich noch fortsetzen will. Die ursprüngliche Konzeption der Reihe sollte wieder hergestellt werden und die dafür nötigen Arbeiten von Spezialisten erfüllt werden. Also: Achtung, hier ist nicht drin, was draußen draufsteht. Aber was ist drin?
Es ist, wie gesagt, ein wissenschaftlicher Tagungsband, der allerdings zu seinem Glück über das akademische Milieu hinausgeht und auch Beiträge von Musikern und Theaterleuten enthält. Wer sich jedoch in der Szene nicht sehr gut auskennen sollte, dem hätten vielleicht nähere biografische Hinweise zu den einzelnen Autoren etwas genützt, ohne diese, so wie hier, wird entweder ihr hoher Bekanntheitsgrad vorausgesetzt oder solches Wissen für unnötig gehalten - eine nette Bescheidenheit. Die einzigen originären Beiträge zu speziell diesem Buch als Serientitel (außer jenen, die nachträglich von Autoren aufgenommen wurden, die nicht auf dem Symposium sprachen) scheinen die Chronik und das Personenregister zu sein, auch das Werkverzeichnis und die Bibliografie sind aus bestehenden Auflistungen kompiliert. Nun, sei’s drum!, sogenannte „Schnellschüsse“ von Verlagen gehen halt öfter mal daneben. Und (auch das muss wohl gesagt werden): Dazu gehören immer zwei, der Verleger und die Autoren, die aber vermutlich manchmal gar nicht wissen, wie ihnen geschieht.
Die Tagung (und entsprechend dieser Band) hatte natürlich ein hochinteressantes Thema. Denn Henze war kein Anhänger einer sogenannten reinen oder absoluten Musik, sondern er liebte die „Verunreinungen“ der Musik durch außermusikalische Bedeutungszusammenhänge mit Natur, Literatur und Politik. Die in dem Band öfter auftauchende, lebens- oder werkgeschichtlich periodisierte Unterscheidung in einen puren und einen vorübergehend (nur um 1968 herum) politischen Künstler scheint völlig unangebracht. In all seinen Phasen war Henze ein Verteidiger der Einstellung, an die Tradition anzuknüpfen, die Melodie und den Gesang zu verteidigen, musikpädagogisch fürs Volk und im Volk zu wirken und für die Freiheit der Kunst zu streiten. Irrtümer über die tagespolitischen Frontverläufe gab es da häufig; allein die Tatsache, dass Henzes El Cimarrón erst kürzlich in Kuba, wo es vor 44 Jahren entstand, erstaufgeführt werden konnte, spricht Bände. Seine literarischen Träumereien waren ähnlich intensiv wie die Schumanns und sein erweiterter Poesiebegriff bezogen auf Musik (“Musik als Sprache“) theoretisch wie praktisch unüberseh- und unüberhörbar. Mit diesem besonderen Phänomen machen die Beiträge zu diesem Band vertraut und gehen auch ins kompositorische Detail, von der Literatur her aufgerollt: Kafkas Ein Landarzt (Norbert Abels), Prévosts Manon Lescaut (Matthias Brzoska), Gozzis König Hirsch (Klaus Oehl), Fouqués und Ingeborg Bachmanns Undine (Peter Petersen), Kleists Prinz von Homburg (Kerstin Schüssler-Bach), Audens Elegie für junge Liebende (Alexander Meier-Dörzenbach), Wilhelm Hauffs und Bachmanns Der junge Lord (Anke Westermann), Euripides‘ Bacchen (Sylvia Roth und Michael Klügel), Bonds We come to the river (Christoph Becher), Mishimas Das verratene Meer (Jens Rosteck), Arabische Märchen (Albert Gier), Euripides‘ Phädra (Gier), Politische Lieder (Michael Kerstan). Elisabeth Schmierer unternimmt den einzigen Versuch, Henzes teilweise programmmusikalischen Instrumentalkompositionen (hier seine drei Violinkonzerte) auf ihre literarischen Bezüge (Enzensberger, Thomas Mann) hin zu untersuchen, um Henzes Theorem einer musica impura zu exemplifizieren. Mit diesen Aufsätzen ist ein unstreitig zentraler Aspekt des Werks von Henze in einem ersten fundierten Durchlauf gewinnbringend abgehandelt.
Peter Sühring
Berlin, 10.03.2013