Felix Mendelssohn Bartholdy. Sämtliche Briefe, Bd 1: 1816 bis Juni 1830 / Hrsg. und komm. von Juliette Appold und Regina Back – Kassel: Bärenreiter, 2008. – 764 S.: Notenbsp. (Felix Mendelssohn Bartholdy. Sämtliche Briefe / Auf der Basis der von Rudolf Elvers angelegten Samml. hrsg. von Helmut Loos und Wilhelm Seidel ; 1)
ISBN 978-3-7618-3201-9 : € 149,00 (geb.) (die Ausg. wird nur geschl. abgegeben)
Nach den vielen Kostproben, die seit dem 19. Jahrhundert durch mitunter tendenziöse Auswahlausgaben kursierten, ist nun einer der größten und witzigsten Schriftsteller der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Gänze zu entdecken. Sein Genre war nicht Gedicht, Drama oder Erzählung, sondern der romantische Brief als eine zwar intime aber mit literarischem Anspruch betriebene Gattung. Man ahnte es schon lange (und die durch den späten Wilhelminismus und die Nazis verursachten Brüche mit einer bürgerlichen Zivilisation in Deutschland verzögerte die Einsicht nochmals um Jahrzehnte), aber nun wirkt die Veröffentlichung dieser Briefe dennoch wie ein kleines Wunder. So viel Reichtum und Eloquenz einerseits und kulturhistorische Dokumentation andererseits hatte man dann doch nicht erwartet.
Nun aber zu all dem, was an dieser Ausgabe nicht von Mendelssohn stammt, sondern von den Herausgebern und Kommentatorinnen herrührt. Zu diesem Band gibt es zwei Einleitungen, eine zur Gesamtausgabe und eine zum Band 1, beide schrieb Wilhelm Seidel, Leipziger Emeritus der Nachwendezeit und Leiter der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Arbeitsstelle für diese Briefausgabe am Musikwissenschaftlichen Institut im alten Mendelssohn-Wohnhaus in Leipzig. Erstaunlich zunächst ist, warum die Einleitung zu diesem Band 1 nicht von den als Herausgeberinnen titulierten Musikwissenschaftlerinnen selbst geschrieben wurde, so hätten einige weitschweifige Redundanzen in den vermutlich nicht lektorierten Texten Seidels wohl vermieden werden können, denn Seidel schreibt schon in der Einleitung zur Gesamtausgabe viele seiner Ansichten zu Mendelssohn und seinen Briefen nieder, die man, wenn überhaupt, lieber andernorts, in einer kleinen Monographie des Autors, gelesen hätte. Seine Ausführungen sind teilweise instruktiv, teilweise stellen sie hochfliegende Interpretationen dar, darunter (soweit sie Mendelssohns musikalische Werke betreffen) durchaus fragwürdige. Unter dem Stichwort „Weimar“ in der zweiten Einleitung (betitelt „Mendelssohns Kindheit und Jugend“) heißt es über die Goethe-Kantate Die erste Walpurgisnacht, die Mendelssohn auf seiner Italienreise 1830 zu komponieren begann, also zeitlich nicht mehr in das Feld des 1. Bandes gehört: „Die Komposition ist die heiterste, farbenfroheste unter den großen Werken, die lichtgleiche Erscheinungen und Errungenschaften der Heils- und Weltgeschichte feiern werden“ (S. 33). Abgesehen davon, daß man sich fragen muß, welche so interpretierbaren historischen Ereignisse hier gemeint sein könnten, fühlt man sich an Schumanns Fehlurteil über die „heitere“ g‑Moll-Sinfonie Mozarts erinnert. Und in einer Fußnote setzt Seidel noch eins drauf: „Mendelssohn bringt am Ende des Lobgesangs sowie der Oratorien Paulus und Elias die Lichtmetaphorik zur Geltung. […] Im Elias stilisiert er das Leben und Wirken des Propheten zu einem auf das Licht Christi hin ausgerichteten Mythos“ (ebd.). Da davon auszugehen ist, daß solche Äußerungen sich vor der Leserschaft nicht selbst korrigieren, wird man abwarten müssen, bis anhand des Mendelssohnschen Briefwechsels mit dem Theologen Schubring im vermutlich vorletzten Band dieser Ausgabe klar wird, daß Mendelssohn gerade keinen christlichen oder protestantischen Schluß dieses Oratoriums anstrebte und daß er den Verkehr mit Schubring in genau dem Moment abbricht, wo dieser das von ihm fordert.
Apropos Briefwechsel. Wenn der Rezensent sich richtig erinnert, war einmal an eine Ausgabe aller Briefe Mendelssohns mitsamt den Gegenbriefen gedacht, dann hätte man aber auf eine rein chronologische Wiedergabe nur der Briefe Mendelssohns an andere, wie sie jetzt vorgelegt wird, verzichten müssen, sondern verschiedene Briefwechsel-Bände mit bestimmten Adressaten edieren müssen. Statt dessen wird am Schluß der Bemerkungen zur Edition mitgeteilt: „Eine diese Ausgabe der Briefe von Mendelssohn ergänzende Edition der Gegenbriefe ist in Vorbereitung“ (S. 58). Wie das gehen soll, bleibt dem Ratschluß der Editoren und Verleger überlassen, und man ahnt indes jetzt schon, das dem eine wohl verhängnisvolle verlegerische Entscheidung zugrunde liegt.
Die erläuterten Editionsprinzipien für den diplomatischen Briefteil und für den Kommentarteil sind speziell für diese Edition entworfen worden, leuchten ein und bewähren sich; vor allem in den von Juliette Appold und Regina Back besorgten Kommentaren bleiben keine Fragen offen, der sehr brauchbare Anhang umfaßt die ausführliche Bibliographie der in den Kommentaren verkürzt zitierten Literatur, die RISM-Bibliothekssigel der Quellen, ein Währungsverzeichnis, eine Ortsnamen-Konkordanz und die beiden Stammbäume der Familien Itzig und Mendelssohn, sowie ein ausführliches Mischregister aller vorkommenden Personen, Werke, Institutionen und Orte, darüber hinaus zwei Werkregister von Felix und Fanny Mendelssohn.
Felix Mendelssohns Briefe sind Zeugnisse der Liebe und der Freundschaft zu und mit seinen Adressaten, an erster Stelle seiner Familie, sie zeigen seine ersten Erfahrungen mit der europäischen Kultur der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts, wie er sie als früh erwachter und frühreifer Musiker wahrnahm und in neue Musik zu verwandeln trachtete. Kernstücke dieses Bandes sind die kritischen Musikbriefe aus Paris, die vor tollkühnen und treffsicheren Urteilen übersprühen, und die fein stilisierten Doppelbriefe von der Reise durch England, Schottland und Wales, die er gemeinsam mit Carl Klingenmann schrieb, in der alles: Alltag, Kunst, Landschaft und soziale Verhältnisse scharf beobachtet und kommentiert werden. Voraussichtlich wird die erst jetzt dieser Schätze habhaft gewordene Nachwelt und speziell die Musikforschung Jahre brauchen, um die Informationen, die hier zu gewinnen sind, auch zu verarbeiten. Überflüssig zu sagen, daß diese Briefedition trotz der gemachten Einwände in keiner Musikbibliothek, die auf sich hält, fehlen darf. Die Ausgabe wird nur geschlossen abgegeben, sie ist auf neun Bände geplant, und es sollen pro Jahr jeweils zwei Bände erscheinen.
Peter Sühring
Zuerst erschienen in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 30 (2009), S. 136f.