Traber, Habakuk: Time in Flux. Die Komponistin Ursula Mamlok – Köln [u.a.]: Böhlau, 2012. – 282 S.: Abb.
ISBN 978-3-412-20440-2 : € 24,90 (geb.)
66 Jahre ihres demnächst 90 Jahre währenden Lebens verbrachte die in Berlin geborene und heute wieder in Berlin lebende Komponistin Ursula Mamlok in den USA und erwarb sich dort eine beachtliche Stellung unter den Komponist(inn)en der Gegenwart. Die geographischen Umstände ihrer Geburt, ihrer Jugend in und ihrer Flucht aus Deutschland, ihrer Aufenthalte in Ecuador, North Carolina (am Black Mountain College) und in New York sowie ihres jetzigen Alterssitzes in Berlin betrachtet sie selbst als eher äußerliche Gegebenheiten. Während all dieser Jahrzehnte und tragischen wie glücklichen Perioden gab es für sie nur eine wirkliche Heimat, die der Musik, am liebsten ihrer eigenen. Das klingt ein bisschen selbstverliebt und nach künstlerischem Sonderbewusstsein. Wer aber einmal eines ihrer sinnig gebauten, logischen und ausdrucksstarken Stücke gehört hat, kann das verstehen, denn sie sind – atonal hin oder her – zum Verlieben schön. Für eine mögliche Rezeption ihrer Musik in Deutschland war die äußerliche Rückkehr Mamloks in ihre Geburtsstadt Berlin ein unvermeidlicher Schritt, den sie im Gefolge von Alfred und Renate Goodman unternahm. Und für die deutschen verständigen Hörer neuer Musik und an Emigrantenschicksalen Interessierten war dieser Schritt dasjenige, was den kleinen Furor um ihre Person auslöste: die späte Rückkehr. Darin hatte sie unter Vertretern anderer Disziplinen einige Vorbilder: der Dichter Hans Sahl kam als fast Neunzigjähriger, ebenso der Ökonom Adolphe Lowe. Und es war immer ein Glück für beide Seiten: Für die Rückkehrer und für die in Deutschland Lebenden.
Habakuk Traber hat nun etwas sehr Schönes gemacht, er hat die heikle Gattung einer Biografie zu Lebzeiten unter Benutzung der authentischen subjektiven Selbstdarstellungen der Musikerin, aber auch in einer dezenten Distanz zu ihnen, in eine umfassende biografisch-werkgeschichtliche Vorstellung dieser Künstlerin umgewandelt, in der Biografisches zwar liebevoll und sachlich, mit einem der Person abgelauschten Understatement erzählt wird, in deren Zentrum aber die musikalische Heimat der späten Remigrantin steht. Mamlok war musikalisch betrachtet nicht recht Amerikanerin geworden (denn Ives, Barber, Varèse und Cage konnten ihr kaum etwas bedeuten), sondern komponierte im Kielwasser deutscher Emigranten wie Schönberg und Wolpe. Sie unterrichtete früh, um sich über Wasser zu halten (schon als Sechzehnjährige im Ecuadorianischen Exil) und ließ sich lange unterrichten, bis sie wusste, wo ihr eigener Stil lag. Diesen ihren Stil in seiner Poetik so technisch genau und verständlich beschreiben zu können, ist eines der vielen erstaunlichen Phänomene dieses Buches, ist aber auch eine seit langem von vielen Berliner Zuhörern geschätzte Fähigkeit Trabers. Hier kommt sie der Darstellung einer Kompositionsweise zugute, die beispielsweise ein so genanntes Reihenquadrat zu ihrem Markenzeichen hat, mit jeweils einer Diagonale aus ein- und demselben Ton, und dessen Koordinaten die Grundstellung, die Umkehrung und deren jeweilige Krebsgänge einer zwölftönigen Reihe sind, die sich machmal fast zu so etwas Ähnlichem wie einem melodischen Thema auswächst. Mamlok hat fast alle vokale und instrumentale Gattungen benutzt und in allen den stimmlichen Komponenten äquivalente Formen und Spielweisen entwickelt, sehr zur Freude der praktischen Musiker, die sich an ihren Kompositionen gerne als virtuos und spielfreudig erweisen können. Ein Buch, dem man kurz vor dem 90. Geburtstag von Ursula Mamlok noch viele Leser wünscht, damit sie genauer wissen, von wem die Rede sein wird (sein sollte).
Peter Sühring
Berlin, 09.01.2013