Mahler im Kontext. Contextualizing Mahler / Mit einer Einleitung von Constantin Floros hrsg. im Auftrag der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft von Erich Wolfgang Partsch und Morten Solvik. ˗ Köln [u.a.]: Böhlau, 2011 – 450 S.: s/w-Abb., Notenbsp., Tab.
ISBN 978-3-205-78496-8 : € 49,00 (geb.)
Gustav Mahler war ein literarischer Musiker par excellence: zeitlebens bereicherte er sein Weltbild durch Weltliteratur, Philosophie, zeitgenössische naturwissenschaftliche Theorien und Anschauungen. Der vorliegende Band bietet teils überblicksartige, teils aufs Detail konzentrierte Bausteine zum Verständnis von Mahlers intellektuellem Profil. Fünf der 18 Beiträge von internationalen Mahler-Forschern sind auf englisch verfasst.
Constantin Floros macht in seiner Einleitung deutlich, dass im Zentrum von Mahlers Denken existentielle, religiöse und philosophische Fragen standen, die er in seinen Werken musikalisch thematisierte: „Das Wozu blieb die quälende Grundfrage seiner Seele“ (Bruno Walter). Christian Glanz situiert Mahler in seinem politischen Umfeld und erklärt damit seine ‚mehrfache Marginalisierung‘: als böhmischer Jude in Österreich, unter den Deutschen und in der ganzen Welt. Hinsichtlich der überhöhenden Vereinnahmung von Person und Werk Mahlers für die 1905 gegründeten Arbeitersymphoniekonzerte macht er deutlich, dass Mahler bei aller Sympathie für Positionen und Vertreter der Sozialdemokratie stets Angehöriger der schmalen obersten Gesellschaftsschicht blieb. Rainer Bischof nähert sich aspektreich den Spezifika der damaligen wienerischen Kultur, als Schmelztiegel unterschiedlichster Nationalitäten, Sprachen, Mentalitäten und Kulturen. Der Behauptung Mahlers, dass seine Symphonien philosophische Fragen stellen und philosophische Antworten geben, geht Georg Mohr nach und untersucht akribisch alle Informationen über Mahlers Bibliotheksbestand. Aus erhaltenen Zeugnissen vermag er zu rekonstruieren, welche philosophische Theorien Mahler rezipiert hat. Drei Beiträge widmen sich Siegfried Lipiner, Mahlers engem Freund und Mentor und Schüler von Gustav Theodor Fechner: Stephen E. Hefling ediert und kommentiert eine Schrift von Lipiner („Über die Elemente einer Erneuerung religiöser Ideen in der Gegenwart“, Vortrag Wien 1878), Catherine Keller thematisiert den starken Einfluss von Fechners mystischem Naturalismus auf Mahlers Komponieren, und Jeremy Barham konkretisiert dies am Beispiel der gelehrten Satire im dritten Satzes der Dritten Sinfonie. Einen wiederum anderen Zugang zur Dritten Symphonie bietet Morten Solvik mit seinem Blick auf Bezüge zu zeitgenössischer Kosmologie und Naturwissenschaft. Ausgehend von dem bekannten Foto, das Mahler 1907 als Wanderer in der Dolomitenlandschaft zeigt, erkundet Erich Wolfgang Partsch die Rolle von Landschaft als „ästhetischem Erlebnis- und Insprirationsraum“ für Mahler. Dabei verweigerte Mahler stets jeden „Abklatsch“ von Natur und verstand seine Musik als eine Art ‚zweite Natur‘, die Begegnung mit der Landschaft setzte seine schöpferischen Kräfte frei. Aufschlussreiche Einsichten zur Beziehung zwischen Mahler und dem Musikwissenschaftler Guido Adler präsentiert Barbara Boisits: Adler unterstützte Mahler mehrfach auf seinem beruflichen Weg, umgekehrt widmete Mahler seinem „theuren Freund“ das Autopgrah des Liedes Ich bin der Welt abhanden gekommen. In seiner Mahler-Biographie (1910) suchte Adler ihn neben Strauss und Reger als einen der Hauptvertreter der musikalischen Moderne zu exponieren, Mahler seinerseits beklagte die vergeudete Zeit, die er bei Sitzungen der Denkmäler der Tonkunst mit Fragen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit älterer Musik zubringen musste; seit seiner Musikgeschichts-Vorlesung bei Eduard Hanslick im WS 1879/80 zeigte er Skepsis gegenüber der Musikhistorie als Wissenschaft. Stefan M. Schmidl untersucht die zahlreiche Literatur über die mythenumrankte Begegnung zwischen Freud und Mahler, über die keine letzten Gewissheiten existieren. Das in der Mahlerliteratur wiederholte akzentuierte angebliche Desinteresse Mahlers an der bildenden Kunst (ausgehend von Almas abschätzigen Bemerkungen) nimmt Martina Pippal zum Anlass, diese Beziehung genauer in den Blick zu nehmen. Versuche der Forschung, Mahlers Musik als ‚Jugenstilmusik‘ einzuordnen, müssen als gescheitert gelten. Unabhängig davon entstanden in der Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner Roller bis heute legendäre Gesamtkunstwerke. Margarete Wagner weist detailliert nach, dass Mahler zu seiner Zeit bereits kanonisierte beziehungsweise arrivierte Literatur bevorzugte, seinen Altersgenossen wie August Strindberg stand er eher reserviert gegenüber. Oskar Pausch arbeitet Mahlers künstlerisches Glaubensbekenntnis heraus, das der Idee von Wagners Gesamtkunstwerk verpflichtet war. In der Zusammenarbeit mit Roller war er der erste moderne Opernregisseur und Exponent eines modernen Regietheaters. In gänzlich andere Richtung wendet sich Timothy David Freeze, wenn er das Verhältnis von Mahler zur populären Musik seiner Zeit thematisiert. Eindrucksvoll dokumentiert er die von Mahler dirigierten Operetten sowie die Besetzung von österreichischen Militärblaskapellen und Operettenorchestern und zeigt an Beispielen, in welcher Weise Mahler musikalische Codes von Zigeunern, ungarischer und türkischer Musik verwendet. Peter Gülke thematisiert Mahlers Beethoven- und Wagner-Rezeption und ortet seine Sechste Sinfonie als Versuch, Beethoven im eigenen Feld zu begegnen. Abschließend konkretisiert Stephen McClatchie Mahlers Identifikation mit Wagner, wie sie sich in seinen Aufführungen des Rings an der Wiener Hofoper spiegelt, ergänzt um eine Zusammenstellung aller Ring-Aufführungen 1897-1907.
Insgesamt hat dieser Sammelband in harten Schnitten eine bunte ertragreiche Spurensuche für Mahlerinteressierte zu bieten, bei der am anregendsten die Beiträge zu den ungeahnten Themen sind.
Hartmut Möller
Rostock, 10.12.2012